Zwischen uns das Meer (German Edition)
durch, und die dreitausend Quadratmeter Grund an der stillen Landstraße waren zugewuchert. Auf der anderen Straßenseite gab es noch ein Stückchen Land, das dazugehörte. Es lag zwischen der Straße und einer geschwungenen Bucht mit grauem Sand und sah aus, als wäre es nachträglich hinzugekauft worden.
Der kleine Strand gab den Ausschlag. Ihre erste Amtshandlung als Besitzer war der Bau eines Anlegers am Strand. Sie bauten ihn eigenhändig, sie und Michael, und dabei redeten, lachten und träumten sie die ganze Zeit.
Am vierten Juli können wir hier grillen … und Betsy zeigen, wie man Krebse fängt … und bei Sonnenuntergang von Papptellern essen …
Es war nur ein schmaler Streifen Land, eine Wiese an einer Landstraße, aber es war Jolenes Traum, ihr kleines Stück vom Paradies. Der Geruch des Wassers und das Rauschen der Wellen trösteten sie. Hierher war sie immer gegangen, um nachzudenken und sich zu erholen. Vor allem in den langen Jahren, zwischen Betsys und Lulus Geburt, als sie einfach nicht schwanger werden konnte. Hierher hatte sie sich Monat für Monat zurückgezogen und geweint, wenn sie wieder ihre Periode bekommen hatte. Und hier hatte sie Gott gedankt, als ihre Gebete endlich erhört worden waren.
Jetzt saß sie auf einem der Deckstühle, die einen rostigen Feuerkorb umstanden. Es regnete, aber das bemerkte sie kaum. Sie starrte auf die graue Wasserfläche, die der Regen tüpfelte, und dachte: Wie sollen meine Kinder das verkraften? Und ich? Und Michael?
Wie sehr sich die Welt in nur drei Stunden ändern konnte …
Sie hatte immer gewusst, dass sie eingezogen werden konnte; spätestens seit dem elften September, aber Michael und sie hatten nie darüber gesprochen. Wie auch? Michael wollte nichts über ihre Aufgaben beim Militär wissen. Jedes Mal, wenn sie nur die Sprache auf die Einberufung weiterer Soldaten brachte, erging er sich des Langen und Breiten darüber, wie falsch es war, Truppen in den Irak zu entsenden.
Sie wusste, was er dachte und sah – die Schattenseiten des Militärs, die Fehler, die Vernachlässigung von Veteranen und traumatisierten Soldaten. Aber das war für sie Politik und somit als gesondertes Thema zu betrachten. Sie sah es ganz anders. Die Army war auch ihre Familie.
Ehre. Pflicht. Loyalität. Das waren für Jolene nicht nur leere Worte, sie waren ein Teil von ihr. Es waren immer zwei Seelen in ihrer Brust gewesen – die der Mutter und die der Soldatin –, und durch den Einberufungsbefehl wurden diese jetzt auseinandergerissen und hinterließen eine klaffende und blutende Wunde.
Wer würde Betsy durch die schwierige Pubertät helfen, ihr Ratschläge über böse Jungs und gehässige Mädchen und alles, was dazwischenlag, geben? Wer würde Lulu in den Kindergarten bringen und sie in den Arm nehmen, wenn sie nachts weinend aus einem Alptraum aufschrak?
Und dann war da noch die Gefahr. Jolene war Helikopterpilotin. Zwar würde sie Michael und den Mädchen erzählen, dass sie nicht unmittelbar am Kampfgeschehen teilnahm, sondern immer in sicherer Entfernung blieb, aber sie wusste, dass das nicht den Tatsachen entsprach. Es kam ständig vor, dass Helikopter abgeschossen wurden.
Wir kommen wieder nach Hause , hatte Tami gesagt.
Und Jolene hatte lächelnd genickt, obwohl sie wusste – genau wie Tami –, dass man das nicht versprechen konnte. Aber das war jetzt ganz unwichtig. Die Zukunft unterlag nicht mehr ihrer Kontrolle. Sie hatten jetzt eine Aufgabe, für die sie jahrelang ausgebildet worden waren. Zivilisten verstanden das nicht, vielleicht konnten sie das auch nicht, aber ein Soldat kam, wenn er gebraucht wurde. Selbst wenn sie Angst hatte oder ihre Kinder sie brauchten: Jetzt war für Jolene die Zeit gekommen, der Armee das zurückzugeben, was sie ihr ermöglicht hatte. Die Zeit, ihrem Land zu dienen.
Sie legte sich die Hand auf die Brust und spürte das langsame, stetige Klopfen ihres Herzens. Sie schloss die Augen und hörte, wie sich ihr Herzschlag mit dem Rauschen der Wellen auf dem Kiesstrand und ihrem eigenen Atem vermischte. Tränen stiegen ihr in die Augen, liefen ihr die Wangen hinunter und vermischten sich mit dem Regen. Sie stellte sich ihren Abschied vor, den Verlust, die Sehnsucht. Sie stellte sich vor, wie ihre Töchter ihretwegen weinten, die Arme nach ihr ausstreckten und nicht fassen konnten, dass sie nicht mehr da war.
Aber sie hatte keine andere Wahl. Als ihr das bewusst wurde, spürte sie, wie sich Frieden in ihr ausbreitete, wie
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