Zwischen uns das Meer (German Edition)
sie die Situation annahm und erkannte, wer sie war. Sie hatte ihr Wort gegeben zu kommen, wenn sie gerufen würde.
Es widerstrebte ihr sehr, ihre Kinder zu verlassen – sie hasste diese Vorstellung aus tiefstem Herzen, aber ihr blieb keine Wahl. Sie würde für ein Jahr in den Irak gehen, ihre Aufgabe erfüllen und dann zu ihrer Familie nach Hause kommen.
Das würde sie ihnen erzählen … daran würde sie sich klammern.
Sie war immer auf diesen Augenblick vorbereitet gewesen. Seit über zwanzig Jahren hatte sie darauf hingearbeitet. Ein winziger Teil in ihr wollte sogar gehen und sich beweisen. Sie wollte gehen … sie wollte nur ihre Familie nicht verlassen.
Langsam löste sie ihre Hand von der Brust und ließ sie in ihren Schoß fallen. Zu ihren Füßen lagen mehrere getrocknete weiße Sanddollars zu einem Kleeblatt arrangiert und erinnerten sie an den letzten Sommer. Sie beugte sich vor, nahm einen und rieb mit dem Daumen über die poröse Oberfläche. Dann stand sie auf.
Sie zog in den Krieg.
Um ein Uhr rief Jolene im Kindergarten an und sorgte dafür, dass Lulu über Mittag bleiben konnte, dann rief sie Michael in der Kanzlei an. Er ließ sie so lange warten, dass sie schon dachte, er würde sich gar nicht melden, und als er schließlich ans Telefon ging, klang er beschäftigt.
»Hi, Jo. Was ist?«
»Du musst heute Abend nach Hause kommen«, bat sie.
Er schwieg; sie hörte ihn atmen. »Ich hab eine Menge Arbeit hier. Daher wollte ich heute lieber hier übernachten.«
»Bitte nicht«, sagte sie und zuckte zusammen, weil es sich anhörte, als würde sie betteln. »Es ist etwas passiert. Ich muss mit dir reden.«
»Ich glaube, wir brauchen mal eine Auszeit.«
»Bitte, Michael. Ich muss heute Abend mit dir reden.«
»Na gut. Ich nehme die Sechs-Uhr-Fähre.«
Die nächsten Stunden versuchte sie, nicht an die Zukunft zu denken, aber es gelang ihr nicht. Als es Zeit wurde, die Kinder abzuholen, merkte sie, wie ihr der Mut sank. Die Vorstellung, ihre Kinder zu sehen – ihr strahlendes Lächeln zu sehen und zu wissen, welchen Schmerz sie ihnen zufügen musste –, war schrecklich. Sie verlor ständig das Gleichgewicht und stolperte. Als sie in der Küche Betsys Schulfoto betrachtete, musste sie sich tatsächlich hinsetzen.
Hilf mir, das durchzustehen , betete sie immer wieder.
Am Kindergarten parkte sie vor dem Gebäude, ging langsam hinein und hörte schon lange, bevor sie das Tor zum Gartenbereich erreichte, den schrillen Kinderlärm.
»Mommy!«, kreischte Lulu, warf die Hände in die Höhe und rappelte sich auf. Dann rannte sie zu Jolene und warf sich ihr in die Arme.
»Hast du was im Auge, Mommy?«, fragte sie. »Weil, ich hab beim Mittagessen Sand ins Auge gekriegt und musste auch weinen.«
»Mir geht’s gut, Lucy Louida«, antwortete Jolene und war nur dankbar, dass Lulu ihre tränenerstickte Stimme nicht bemerkte. Sie trug Lulu zum Wagen, schnallte sie auf ihrem Kindersitz auf der Rückbank an und fuhr durch den Ort zur Middle School. Wie üblich kam Betsy als eine der Letzten. Sie hielt sich im Hintergrund, als wollte sie nicht von den anderen gesehen werden. Dann rannte sie zum SUV , stieg auf den Rücksitz und zog heftig die Tür zu.
Jolene starrte ihre Tochter über den Rückspiegel an und verspürte einen Anflug von Panik. Sie ist im Moment so verletzlich …
»Willst du den ganzen Tag hier einfach nur rumsitzen?«, fragte Betsy und verschränkte die Arme.
Wie soll Betsy ohne Mutter die siebte Klasse überstehen? Was passiert, wenn sie ihre Periode bekommt? Wer wird ihr helfen?
»Mom«, sagte Betsy scharf. »Bist du hirntot?«
Jolene fügte sich in den Strom der Abholwagen ein. Sie wollte ein Gespräch beginnen, irgendwas sagen, aber sie hatte einen Kloß im Hals. Als sie vor Milas Haus vorfuhr, brannten ihr die Augen von ungeweinten Tränen.
Das Haus ihrer Schwiegermutter war ein kleiner, L-förmig gebauter Bungalow aus den späten Siebzigern. Im Vergleich zu den neueren Häusern auf beiden Seiten wirkte es winzig, aber das Grundstück war atemberaubend. Es war weitläufig, reichte bis zum Wasser und bot einen Ausblick auf die friedliche Lemolo Bay. Hier und dort standen riesige Nadelbäume, um deren borkige Stämme unzählige bunte Blumen wuchsen. Mila hatte aus ihrem Grundstück einen Schaugarten gemacht; jedes Jahr diente es auf den hiesigen Gartenführungen als großartiges Beispiel eines typischen Gartens des Nordwestens. Das Wasser am Ufer war flach und klar; im Sommer
Weitere Kostenlose Bücher