Zwischen uns das Meer (German Edition)
– die sich wie Stunden anfühlten – kehrte Seth mit Betsy zurück. Sie stiegen den Strandpfad zur Straße hinauf. Beide waren nass bis auf die Knochen.
Michael war so erleichtert, dass er fast auf die Knie gesunken wäre. »Betsy, Gott sei Dank!«
Als sie näher kamen, sah er, wie wütend und verletzt seine Tochter war. »Wie konntest du nur?«
»Es tut mir leid, Betsy.«
Sie strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. »Du solltest da sein, wenn ich nach Hause komme.«
»Ich weiß. Ich weiß.«
»Ich sollte niemals in ein leeres Haus kommen.«
»Tut mir leid. Aber ich finde, du bist alt genug, um nach der Schule allein zu Hause zu sein.«
»Ach!« Sie drängte sich an ihm vorbei, marschierte ins Haus und knallte die Tür hinter sich zu.
Michael sah Seth dankbar an. »Danke, Seth.«
»Sie war am großen Baum am Anleger der Harrisons. Da geht sie immer hin, wenn sie aufgebracht ist.«
»Tja dann. Danke.« Es war ihm peinlich, dass der Nachbarjunge Betsy besser kannte als er. Er drehte sich um und ging ins Haus. Dort wickelte er Lulu in ein großes Handtuch und setzte sie vor den Fernseher, bevor er hinauf zu Betsys Zimmer ging.
Sie zeigte ihm die kalte Schulter. Ihr regennasses Haar tropfte und färbte ihr T-Shirt immer dunkler. Sie starrte aus dem Fenster. »Es tut mir leid, Bets. Wenn du nur den Anruf …«
Sie wirbelte zu ihm herum. »Kapierst du das nicht? Ich dachte, du wärst tot!«
»Ach.« Wieso hatte er nicht daran gedacht? Jolene hätte Betsys Ängste erahnt und sie davor bewahrt. Es war nur allzu verständlich, dass Betsy befürchtete, den ihr noch verbliebenen Elternteil zu verlieren. »Tut mir leid, Betsy. Ich hab’s vermasselt. Es wird nicht noch einmal vorkommen. Okay?«
Betsys Augen füllten sich mit Tränen. Ungeduldig wischte sie sie weg.
»Ich werde immer pünktlich hier sein.«
»Ha!«
Unten klingelte das Telefon.
Kurz darauf kreischte Lulu: »Es ist Mommy!«
Betsy schob sich an Michael vorbei und rannte hinunter.
Widerstrebend folgte er ihr. Das war ein denkbar schlechter Zeitpunkt für ein Telefonat.
»Mom.« Betsy drückte sich wild entschlossen den Hörer ans Ohr. »Dad war nicht da, als ich heute nach Hause kam. Er hat mich vergessen. Wenn du hier gewesen wärst, wäre das nicht passiert.«
Lulu stürzte sich auf sie. »Gib den zurück! Ich hab mit ihr geredet …«
Betsy schubste sie weg. Lulu fiel auf den Po und schrie. »Ich will mit ihr reden!«
»Betsy«, bat Michael, »lass Lulu auch mit ihr sprechen.«
Betsy verzog das Gesicht, ließ Lulu aber mittelefonieren. Die beiden Mädchen setzten sich nebeneinander an einen Tisch und fielen sich ständig ins Wort.
Seufzend ging Michael in die Küche und machte sich etwas zu trinken. Zehn Minuten später gab Betsy ihm das Telefon. »Sie will mit dir reden, Dad. Sie hat nicht viel Zeit für uns. Wie immer.«
Er nahm das Telefon, ging ins Familienzimmer und setzte sich. »Hey, Jo.«
»Ist das wahr, Michael? Du hast sie vergessen?«
»Ja, hack du auch noch auf mir rum, Jolene. Das macht jetzt auch nichts mehr.«
Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Du hast ihr Angst gemacht, Michael.«
»Das weiß ich jetzt auch.«
Wieder trat eine kurze Pause ein. »Wir brechen morgen auf. In den Irak.«
»Ist denn schon ein Monat vergangen?«
»Ja, Michael.«
Im Wahnsinnstrubel der letzten vier Wochen hatte er das Datum vergessen – vergessen, dass sie in den Krieg zog. Natürlich hatte er es nicht wirklich vergessen; das Wissen darum war nur ein Schatten gewesen, den er in der Hektik des Alltags kaum bemerkt hatte. Da sie bis jetzt noch nicht in Gefahr gewesen war, hatte er lieber nur an sich gedacht.
»Ich weiß nicht, wie und wann ich mich aus Balad melden kann, oder wie lange wir da sein werden. Ich versuche, mit euch in Kontakt zu bleiben.« Sie verstummte kurz. »Michael, falls wir Internetzugang haben, wäre es wirklich schön, wenn die Mädchen mir schreiben würden.«
Er dachte daran, wie ihre Tage dort drüben verlaufen würden, und wie sehr ein Teil von ihr die Mädchen vermisste. Es war schon beschämend, dass sie um diesen Gefallen bitten musste. Vor allem, weil er wusste, wie schwer es ihr fiel, überhaupt um etwas zu bitten. »Ich sorge dafür«, versprach er.
»Danke. Tja dann. Ich muss jetzt aufhören, die anderen werden schon unruhig.«
»Jo?«
»Ja?«
»Alles Gute. Pass auf dich auf.«
Sie seufzte. »Leb wohl, Michael.«
»Leb wohl.«
Am liebsten wäre er jetzt zurück in die Küche gegangen,
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