Zwischen uns das Meer (German Edition)
nickte. »So was kommt schon mal vor. Aber Lulu ist ziemlich aufgebracht.« Sie trat einen Schritt beiseite.
Durch die geöffnete Tür sah Michael Lulu ganz allein in einem bunten Spielzimmer sitzen, umringt von Puppen und Stofftieren.
»Du kommst zu spät«, sagte sie und sah ihn an. »Alle anderen Mommys waren schon da.«
»Ich weiß. Entschuldige.« Er half ihr in den Mantel, verabschiedete sich von der Kindergärtnerin und trug Lulu zum Wagen.
Den ganzen Heimweg redete Lulu nicht mit ihm, aber, offen gestanden, war eine schlechtgelaunte Vierjährige im Augenblick die geringste seiner Sorgen.
Zu Hause tätschelte er ihr den Po und sagte, sie solle brav sein. Dann brüllte er: »Betsy! Ich bin da!« und schloss die Haustür hinter sich. »Ich weiß, du bist sauer, aber komm runter und sprich mit mir.«
Er warf seine Aktentasche auf den Küchentisch und lockerte die Krawatte. »Betsy?«, brüllte er noch einmal.
»Sie ist nicht da«, sagte Lulu, als sie in die Küche kam.
»Was?« Michael sah sie an. »Was soll das heißen?«
Lulu stand mit ihrer alten gelben Decke vor ihm. »Betsy ist nicht zu Hause.«
»Was?«, brüllte er jetzt so laut, dass Lulu zusammenschrak. Er rannte an ihr vorbei die Treppe hoch; dann stieß er Betsys Zimmertür auf und rief ihren Namen.
Nichts.
Er rannte laut rufend durchs Haus, bis er ganz sicher war, dass sie nicht daheim war.
Unten weinte Lulu. »Sie ist weg. O nein … jemand hat sie entführt.«
»Niemand hat sie entführt«, murmelte er zornig, während er zum Telefon ging und seine Mutter anrief. Als sie sich meldete, sagte er: »Warum hörst du nicht deine Nachrichten ab! Ist Betsy bei dir?«
»Was? Ich bin gerade erst zur Tür herein. Was ist denn los?«
»Ich bin spät nach Hause gekommen«, erklärte er und fluchte leise. »Sie ist nicht da.« Dann legte er auf, bevor seine Mutter etwas erwidern konnte. Angst überkam ihn, große Angst. »Ich rufe ihre Freundinnen an«, sagte er, nahm wieder den Hörer und zögerte dann. »Lulu, hör auf zu weinen, verdammt noch mal. Wie heißen Betsys Freundinnen?«
Lulu heulte. »Weiß ich nicht! Sie ist weg !«
Er rief die Schule an, bekam aber nur den Anrufbeantworter.
Fluchend legte er auf.
»Vielleicht ist sie weggelaufen«, vermutete Lulu.
Michael ging hinaus auf die Veranda. Es regnete jetzt in Strömen; der Regen drückte das Gras zu Boden und bildete in der Einfahrt Pfützen. Er dachte an die Bucht mit ihrem tiefen, kalten Wasser, die für seine Kinder immer verlockend gewesen war. »Betsy! Wo bist du?«
Je öfter er ihren Namen rief, desto heftiger weinte Lulu und desto mehr geriet Michael in Panik. Was zum Teufel hatte er sich nur gedacht? Er hätte den Wagen stehen lassen, zu Fuß auf die Fähre gehen und danach ein Taxi nehmen sollen. Oder er hätte Carl anrufen können. Warum hatte er nicht daran gedacht? Verdammt . Wenn irgendein Typ Betsy aus dem Wagen hatte steigen sehen und ihr ins leere Haus gefolgt war …
Er rief weiter Betsys Namen, schnappte sich Lulu wie einen Football, quer zum Körper, und rannte durch den Regen zum Nachbarhaus. Während er rannte, richtete er Lulu in seinen Armen auf und schaffte es in knapp einer Minute zu Carls und Tamis Haus. Er klopfte.
Carl öffnete. »Michael, was ist los?«
Michael wischte sich den Regen aus dem Gesicht. »Betsy sollte längst zu Hause sein, ist aber nicht da. Ich dachte, sie ist vielleicht bei euch.«
Als Carl langsam den Kopf schüttelte, wurde Michael flau im Magen. Eine Sekunde lang dachte er, er müsste sich übergeben.
Da kam Seth mit einem Dauerlutscher im Mund ins Wohnzimmer. Er hielt ein zerlesenes Exemplar von Fremder in einem fremden Land in der Hand und trug enge Jeans, hohe Turnschuhe und ein altes Egoshooter-T-Shirt. Seine schwarzen Haare hatte er zu einem Samurai-Knoten zurückgebunden. »Was ist los?«
»Betsy ist nicht zu Hause«, sagte Carl. »Und Michael macht sich Sorgen.«
»Ich wette, ich weiß, wo sie ist«, erwiderte Seth.
»Wirklich?«, fragte Michael. »Wo?«
Seth warf sein Buch auf die Couch. »Wartet hier.« Er rannte an Michael vorbei nach draußen.
Michael und Lulu folgten ihm die Einfahrt hinunter. Carl schnappte sich einen Schirm und gesellte sich am Briefkasten zu ihnen. Seth blieb an der Straße stehen, blickte nach links und rechts, überquerte sie und stieg zum Strand hinunter.
Sie darf nicht allein ans Wasser. Der Regen trommelte so laut auf den Schirm, dass sie sich nicht mal atmen hörten.
Minuten später
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