Zwischen uns das Meer (German Edition)
dort fliegen lernte (jedenfalls nicht nur), sondern weil ich dort Tami kennenlernte.
Am Anfang hatte ich Angst, sie anzusprechen. Sie war so selbstbewusst. Es schien ihr egal zu sein, dass wir die einzigen Frauen in der Ausbildung waren. Die ganze erste Woche ignorierte ich sie, weil ich dachte, sie würde mich nicht mögen. Aber weißt Du was? Sie hatte darauf GEWARTET , dass ich sie ansprechen würde.
Da lernte ich, wie viel ein Lächeln bewirken kann. Zeig den Menschen, dass Du bereit bist, ihr Freund zu sein, und wenn sie Dir eine Chance geben, ergreif sie – hab keine Angst. Bei Tami musste ich nur den Mut aufbringen, sie zu grüßen und mich in der Kantine zu ihr zu setzen. Man weiß nie, wann ein Gruß, ein Satz Dein Leben ändern kann.
Ich wünschte, ich könnte Dir von Angesicht zu Angesicht sagen, wie hübsch und klug und begabt Du bist, aber im Augenblick müssen meine Worte in dieser E-Mail dafür reichen. Sei stark, Betsy. Glaub an Dich, dann wird alles gut.
Ich hab Dich lieb. Bis zum Mond und wieder zurück.
Das reichte nicht. Nicht mal annähernd. Aber mehr ging nicht, mehr konnte sie von hier aus nicht sagen.
Morgen würde sie Lulu schreiben.
Sie gähnte und drückte auf Senden.
Am letzten Donnerstag im Mai stand Michael früh auf und machte Frühstück. Er dachte, wenn er einen kleinen Vorsprung erarbeitete und für einen glatten Ablauf mit den Mädchen sorgte, würde alles gutgehen. Seit Jolenes Aufbruch war er ständig zu spät – bei Terminen, bei der Fähre, beim Abendessen. Irgendwas kam immer dazwischen. Heute war er entschlossen, für einen schönen, friedlichen Morgen zu sorgen.
Als Betsy stärker geschminkt als ein Showgirl in Las Vegas in die Küche kam, wusste er, dass er sich zu früh gefreut hatte.
»Das soll ja wohl ein Witz sein«, sagte er und legte die Zeitung nieder.
Betsy drehte ihm den Rücken zu. »Was denn?«, fragte sie und öffnete den Kühlschrank.
»Mit diesem Make-up gehst du nicht zur Schule.«
Sie sah ihn an. »Welchem Make-up?«
»Ich trage eine Lesebrille, Bets. Aber ich bin nicht blind. Geh und wasch dir dein Gesicht.«
»Sonst?«
»Sonst …« Er kniff die Augen zusammen. »Sonst biete ich heute meine Dienste in der Schule an. In Sozialkunde. Nehmt ihr nicht gerade die Verfassung durch?«
»Das würdest du nicht wagen.«
»Lass es drauf ankommen.«
Sie starrte ihn eine ganze Weile an, dann stampfte sie mit dem Fuß auf und marschierte aus der Küche. Als sie zurückkehrte, benahm sie sich unmöglich, knallte Schranktüren zu, murmelte ständig Verwünschungen und war gemein zu Lulu, die fast das gesamte Frühstück hindurch weinte und ständig fragte, wann Mommy zurückkäme.
Auf der Arbeit verbrachte er den ganzen Tag damit, Liegengelassenes aufzuarbeiten, aber es war einfach zu viel. Er war schlicht und einfach überlastet damit, die Kanzlei zu leiten und seine Klienten zu verteidigen. Gerade diktierte er eine offizielle Anfrage nach Keith Kellers militärischer Laufbahn. Etwas, das er bereits vor Wochen hätte tun müssen.
Über die Sprechanlage meldete er sich bei seiner Sekretärin. »Ann? Haben wir irgendwas von Keith Keller gehört?«
»Nein, nichts, Michael.«
»Danke.« Er blickte wieder auf die Unterlagen, die auf seinem Schreibtisch verstreut lagen. Gerade als er nach einem Stift griff, klingelte sein Handy.
»Hi, Michael«, meldete sich seine Mutter. »Entschuldige, dass ich dich auf der Arbeit anrufe, aber ich habe einen Platten und bin gerade in der Tacoma Mall, wegen der Ausstellung von Gartenpräsenten. Ich schaffe es auf keinen Fall, Lulu rechtzeitig vom Kindergarten abzuholen und noch vor Betsy nach Hause zu kommen.«
»Ist sonst alles in Ordnung?«
»Ja, ja. Ich warte nur auf die Pannenhilfe. Sarah Wheller holt heute die Kinder ab – sie wird Betsy nach dem Leichtathletiktraining nach Hause bringen. Gegen fünf. Und Lulu muss bis halb fünf abgeholt werden.«
Er blickte auf seine Uhr. Es war 15.33 Uhr. Die nächste Fähre fuhr in zwölf Minuten. Wenn er die verpasste, würde Betsy in ein leeres Haus kommen – ein absolutes No-Go auf Jolenes ach so wichtiger Liste. Obwohl er offen gestanden nicht wusste, warum eine Zwölfjährige nicht auch mal allein sein konnte. »Ist gut, Ma. Danke.«
»Tut mir leid, dass ich dir das antun muss. Ach, verflixt, jetzt piept mein Handy. Heißt das, die Batterie ist leer? Michael? Hörst du mich?«
»Ja, Mom. Kein Problem. Danke.« Er klappte sein Handy zu, sammelte die Unterlagen, die
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