Zwischen uns das Meer (German Edition)
Neuigkeit, seit er den Fall übernommen hatte. Es widerstrebte ihm zwar, sich das Elend anderer anzuhören und Gut zu denken, aber es war nun mal sein Job, im Schmerz anderer nach Gründen zu suchen. Obwohl die Rechtsprechung sich an einer Sammlung festgelegter Regeln orientierte, erfolgte sie nicht im luftleeren Raum. Vor Gericht gab es immer Spielraum für Auslegungen, für Emotionen, für Mitgefühl. »Erzählen Sie mir, was passiert ist, Keith. Bis ins letzte Detail.«
Keith starrte dumpf an die Wand. Michael bemerkte, wie die Miene des jungen Mannes wieder ausdruckslos wurde.
»Sie wollte zum Pike Place. Ich wusste, das war keine gute Idee, konnte aber nicht sagen, warum. Aber Sie wissen ja, ich liebe … liebte Emily, und was sie wollte, wurde gemacht, vor allem, nachdem ich aus dem Irak zurück war.«
»Warum das?«
»Man konnte es nur schwer mit mir aushalten. Ich machte ihr ständig Schwierigkeiten. Jedenfalls gingen wir zum Markt.« Darauf schwieg er so lange, dass Michael schon nachhelfen wollte. Doch da fuhr Keith fort: »An dem Tag schien die Sonne. Es war voll auf dem Markt. Musiker, Jongleure, Zauberer, Komiker, Penner. Man konnte keinen Schritt gehen, ohne dass einen jemand anstieß, sich vor einen schob oder versuchte, einem was anzudrehen.«
Er sah auf seine zitternden Hände. »Ich wurde langsam nervös und gereizt. Also genehmigte ich mir einen Tequila im Athenian, aber dadurch wurde ich auch nicht ruhiger. Ich war so schreckhaft. In letzter Zeit bin ich oft schreckhaft. An jenem Tag schrak ich bei jeder Bewegung zusammen, und mein Herz fing an zu hämmern … und es herrschte viel Bewegung. Ständig meinte ich, jemand wäre hinter mir her. Während Emily Blumen kaufte, flitzte ich also noch mal ins Athenian und genehmigte mir ein paar.«
»Wie viele?«
»Viele«, seufzte Keith. »Ich weiß , dass Trinken auch keine Lösung ist. Darüber stritten Emily und ich uns ständig. Sie fand, dass ich zu viel trank und dann gemein wurde. An jenem Tag spürte ich auch, wie ich gemein wurde.«
»Haben Sie vor Ihrem Einsatz im Irak auch schon viel getrunken?«
»Ich glaube nicht«, antwortete er achselzuckend.
»Erst danach?«
»Ja, und viel. Manchmal wird dadurch das … Brüllen in meinem Kopf leiser. Aber an dem Tag half es nichts.«
»Sondern es wurde schlimmer.«
Keith nickte. »Als wir den Markt verließen – da war ich schon ziemlich betrunken und angepisst –, sprang mich dieser Penner an. Emily behauptete, er wäre einfach nur auf uns zugelaufen, aber mir kam’s nicht so vor. Jedenfalls kam er schnell , und er war ein mies aussehender Kerl mit langen schwarzen Haaren und Jesusbart. Ich verpasste ihm eine, so dass er zu Boden ging. Ich sah, dass ihm Blut aus der Nase spritzte. Emily fing an zu schreien, sie wüsste nicht mehr, was mit mir los wäre, und da war dieses … Zittern, weswegen ich einfach nicht mehr stillstehen konnte. Als Nächstes erinnere ich mich daran, dass Emily in unserem Wohnzimmer auf dem Boden lag.« Keith hatte die Hände in den Schoß gelegt und ballte sie immer wieder zu Fäusten. »Es war, als würde ich aus einem Alptraum erwachen. Überall war Blut, auf mir, auf Emily, auf der Wand. Ihr halber Kopf war … einfach weg. Ich beugte mich über sie und versuchte es mit Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage. Dabei brüllte und weinte ich die ganze Zeit. Erst als ich die Waffe sah – meine Waffe –, wusste ich, was ich getan hatte.«
»Und das ist alles, woran Sie sich erinnern?«
»Genau.«
»Ist gut. Jetzt ist es notwendig, dass Sie mit einem Psychiater reden. Werden Sie das für mich tun, Keith?«
»Klar. Aber das wird auch nichts ändern. Ich brauche keinen Doktor, um zu wissen, dass ich verrückt bin.«
Michael sah seinen Klienten an und dachte: Dieser Junge braucht meine Hilfe. Er wusste, sie hatten schlechte Karten, dennoch verspürte er zum ersten Mal seit langer Zeit Hoffnung. Dies konnte ein wirklich bedeutender Fall werden. Wenn sein Dad das noch erlebt hätte! »Ich mache einen Termin.«
Liebe Mom,
Du wirst es nicht glauben, aber Dad hat mir ein Handy gekauft. Für mich ganz allein. Du hättest Sierras Gesicht sehen sollen, als ich’s in der Schulcafeteria auf den Tisch gelegt habe. Sie hielt es kaum aus! Normalerweise kriegt man erst auf der High School ein Handy. Ich hab Sierra gesagt, wenn sie wollte, könnte sie mal damit telefonieren. Das hat sie gemacht, und danach sind wir gemeinsam in die Klasse gegangen. Du hast gesagt, ein Lächeln
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