Zwischen uns das Meer (German Edition)
»Deine Hose ist vollkommen in Ordnung.«
»Puh«, machte Betsy.
»Können wir jetzt gehen ?«, drängelte Lulu.
Michael hob seine Kleine auf den Arm, und los ging’s, allerdings zuerst noch einmal in die Geschenkabteilung. Als sie endlich Papier und Karte ausgesucht und Klebeband und Schleife gekauft hatten, war Lulu bereits völlig außer Kontrolle, aber ihr Quengeln und Betteln war leichter zu ertragen als Betsys Schweigen.
Michael floss über vor Mitgefühl. Er wusste, dies war einer der einschneidenden Momente im Leben, und sie würde ihn mit der Erinnerung abheften, dass ihre Mutter enttäuschenderweise abwesend gewesen war und ihr Vater sie im Stich gelassen hatte.
Er wollte ihr etwas schenken, um ihr die Erinnerung zu versüßen. Noch während er darüber nachdachte, kamen sie an der Schmuckabteilung vorbei. »Hey, Betsy«, sagte er, »wolltest du dir nicht Ohrlöcher stechen lassen? Heute gibt’s eine Sonderaktion.«
Betsy holte scharf Luft und zeigte dann grinsend die bunten Bänder ihrer Zahnspange. »Mom sagt, ich dürfte erst mit dreizehn.«
»Bist du ja bald schon. Außerdem bist du jetzt … äh, eine Frau«, murmelte er, peinlich berührt. »Und wir müssen es Mom ja auch nicht erzählen.«
Betsy schlang ihm die Arme um den Hals und umarmte ihn. »Danke, Dad.«
»Was? Ich will aaaaauuch!«, heulte Lulu auf.
Michael zuckte zusammen. Im Ernst, seine jüngere Tochter kreischte wie ein prähistorischer Vogel, der in die Falle gegangen war. Er blickte sich um und rechnete fest damit, von allen Seiten angestarrt zu werden. Bitte, Daddy, bittebittebitte …
Liebe Mom,
Dad sagt, ich muss Dir schreiben. Hier also mein Brief: Ich habe meine Periode bekommen. Bei Wal-Mart. Mit Daddy.
Er hat mir Binden gekauft, die so dick sind wie eine Doppelmatratze. Sierras Mom meint, das passiert, wenn ein Mann Frauenarbeit machen muss. Grrr.
Danke, dass Du nicht da warst, als ich Dich gebraucht habe.
August
Es ist so heiß hier! Langsam gewöhne ich mich so an meinen ewigen Schweißgeruch, dass ich ihn schon gar nicht mehr rieche. Ich hab angefangen, von Eis zu träumen. Wenn ich zum Schlafen komme.
Der Kommandant hat gestern Abend eine Besprechung angesetzt und uns verkündet, was wir längst wussten. Die Missionen werden immer gefährlicher. Wir werden ständig beschossen und sind bei der Landung auch unter Beschuss. Offenbar werden wir noch viel mehr Luftangriffe starten. Toll! Und Betsy hat ihre erste Periode ohne mich bekommen. Das setzt mir so zu, dass es mir schwerfällt, überhaupt darüber zu schreiben. Ich verpasse ihr Leben. Ich verpasse alles.
Mitte August beendete Dr. Cornflower sein psychologisches Gutachten über Keith Keller. Seine Diagnose: extreme posttraumatische Belastungsstörung. Außerdem erklärte der Psychiater, dass Keller seiner Meinung nach prozessfähig war und die Vorgänge vollständig erfassen konnte.
Das bedeutete, dass der Prozess stattfinden konnte. Der Termin wurde anberaumt.
Jetzt betrachtete Michael die eifrigen und gespannten Gesichter um sich herum. Er und seine Mitarbeiter saßen am Konferenztisch. Jeder der drei Mitarbeiter, die er für die Verteidigung von Keith Keller abbestellt hatte, war Bester seines Jahrgangs gewesen und arbeitete mindestens sechzig Stunden pro Woche. Um ein guter Strafverteidiger zu werden, musste man hungrig sein, und das waren sie.
»Also kann’s losgehen. Mit posttraumatischer Belastungsstörung gehen wir, wie Sie wissen, auf verminderte Schuldfähigkeit, was bedeutet, dass wir jedwede Absicht ausschließen müssen. Wir müssen beweisen, dass Keith gar nicht die Absicht haben konnte , seine Frau umzubringen; ohne Absicht gibt’s keinen vorsätzlichen Mord. Ich muss Ihnen nicht sagen, dass wir nur damit den Fall gewinnen können. Aber Geschworene mögen verminderte Schuldfähigkeit gar nicht, genauso wenig wie Unzurechnungsfähigkeit, also brauchen wir Sachverständige, Augenzeugen und Statistiken.« Er wies die einzelnen Aufgaben zu: Einer würde die grundsätzliche Gesetzeslage klären, ein anderer würde sich um die Behandlung der Geschworenen kümmern und der dritte um Präzedenzfälle im Staat Washington und anderswo. Außerdem durfte das wichtige Procedere vor dem Prozess nicht aus den Augen verloren werden. »Ich will jeden Fall, und zwar in jedem Bundesstaat, wo posttraumatische Belastungsstörung – vor allem vor dem Hintergrund des Irakkriegs – Erfolg hatte, und jeden Fall, wo sie angeführt wurde. Bis Montag will ich
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