Zwischen uns das Meer (German Edition)
einen groben Entwurf unserer Verteidigungsstrategie. Hilary, damit fangen Sie an. Sie werden alle Berichte und Expertenmeinungen bekommen, die Sie brauchen. Achten Sie darauf, dass alle Regeln der Beweisführung peinlichst genau beachtet werden. Noch Fragen?«
Schweigen.
»Gut.«
Als Michael aufstand, folgten die Mitarbeiter seinem Beispiel. Während sie aus dem Konferenzzimmer strömten, packte er seine Aktentasche und ging zurück in sein Büro. Die nächsten Stunden arbeitete er an seinem Computer und rief jeden Fall mit einer auf posttraumatischer Belastungsstörung basierenden Verteidigung auf, den er finden konnte.
Auf der Fahrt mit der Fähre arbeitete er weiter. Er las noch einmal Cornflowers Gutachten und konzentrierte sich auf die Passage, wo Keith seine Erfahrungen schilderte:
In Ramadi schlossen wir Wetten darauf ab, wessen Zelt als Nächstes von Mörsern getroffen werden würde … ich kam gerade vom Pinkeln zurück, als einer in unserem einschlug … man konnte gar nichts machen … sie verbrannten bei lebendigem Leib … ich hör sie noch schreien … Und dann mussten die Leichenteile gesammelt und eingepackt werden … Arme, Beine … wir steckten sie in Plastiksäcke und transportieren sie mit zurück … ist schon komisch, den Arm eines Kumpels anzufassen …
Michael ließ den Bericht sinken. Was widerfuhr Jolene dort drüben? Was sah sie? Nun, da er sich einmal die Frage gestellt hatte, konnte er sie nicht mehr verdrängen. Er dachte an seine Frau und stellte sich zum ersten Mal das Schlimmste vor …
Draußen war es immer noch hell – ein schöner, lavendelfarbener Abendhimmel –, als er vor dem Grünen Daumen parkte.
Seine Mutter empfing ihn mit besorgter Miene an der Tür.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin«, entschuldigte er sich.
Sie tat seine Entschuldigung ungeduldig ab. »Betsy ist vollkommen außer sich. Ihre Freundin Sierra hat vor einer Stunde angerufen und ihr erzählt, dass heute eine Helikopterpilotin abgeschossen wurde. Ich hab versucht, sie zu beruhigen, aber …«
Michael blickte an seiner Mutter vorbei; er sah, dass Lulu in einer Ecke an einem Gartentisch saß und spielte, sie würde ihrer Puppe Tee in einem Pappbecher servieren. »Wo ist sie denn?«
»Draußen, am Felsen.«
Michael nickte. »Wir gehen heute Abend im Pot essen. Willst du mitkommen?«
»Das würde ich gerne, aber ich kann nicht. Helen und ich dekorieren heute das Schaufenster um. Bald ist Labor Day – da fängt die Hochsaison an.«
Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Danke, Ma.« Dann ging er seufzend durch den Laden, vorbei an Regalen voller Schnickschnack, Pflanzgefäße und Gartenwerkzeug. An der Hintertür hielt er kurz inne, um Kraft zu sammeln, dann ging er hinaus auf den Parkplatz zwischen den Läden der Front Street und dem Hafen. Dort lag auf einer kleinen Rasenfläche ein großer grauer Felsbrocken mit Blick auf die Anleger. Solange er lebte, waren die Kinder des Orts schon auf diesen Stein geklettert. Jetzt sah er seine Tochter darauf sitzen. Sie hatte den Blick zum Hafen gewandt, und ihre blonden Haare wehten im Wind. Auf dem ruhigen Wasser unter ihr schaukelten Hunderte von Booten.
Er kam zum Felsen. »Hey, du«, sagte er und blickte hinauf.
Mit bleichem, tränenüberströmtem Gesicht sah sie zu ihm herunter. Ihr Blick war beunruhigend leer. »Hi, Dad. Du bist spät dran.«
»Tut mir leid.«
Während er mühsam nach irgendwas Tröstlichem suchte, klingelte die Weckfunktion ihrer Armbanduhr. Betsy riss sie sich ab und schleuderte sie auf den Boden.
Er bückte sich, hob sie auf und hörte das Pieppieppiep, das seine Frau genau in diesem Moment am anderen Ende der Welt ebenfalls hörte. Einen Moment lang stellte er sich vor, wie sie auf ihre Uhr blickte und sich wahrscheinlich ganz weit weg von zu Hause fühlte.
»Deiner Mom ist nichts passiert«, sagte er schließlich. Ehrlich gesagt, war vor dem Keller-Fall alles leichter gewesen, als er noch Jolenes optimistische Schilderungen in ihren Briefen und ihre Versicherungen glauben konnte, dass sie nicht in Gefahr wäre. Jetzt wusste er es besser. Wie sollte er ein Kind trösten, wenn seine Befürchtungen berechtigt waren? Wenn er sie teilte? »Es war nicht sie, Betsy.«
Betsy ließ sich vom Felsen gleiten. »Aber sie hätte es sein können.«
»Aber sie war’s nicht«, versicherte er leise.
In dem Moment traten ihr Tränen in die Augen, und ihr Mund zitterte. Er sah, dass sie um Fassung rang. »Dieses Mal«, sagte
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