Zwischen uns das Meer (German Edition)
seinen hohen Wangenknochen und den glatten, langen Haaren schmal und fremdländisch. Heute war er ganz in Schwarz gekleidet. Nicht gerade die passende Kleidung für eine nächtliche Fahrradtour.
Er stieg vom Rad und hielt es fest. »Hey, Mr Z.«
»Wie geht’s, Seth?«
»Nicht schlecht. Meine Grandma kümmert sich um mich. Für heute hat sie einen Film ausgeliehen. Wahrscheinlich für Kleinkinder, mit einem sprechenden Hund als Star. Dad musste diese Woche nach Ellensburg, um ein Ersatzteil zu holen. Ist Betsy noch im Kajakcamp?«
Michael nickte. »Bis Sonntag.«
»Ach.«
Michael runzelte die Stirn. »Hast du Lust auf ’ne Cola?«
Seth ließ grinsend seine Zahnspange aufblitzen. »Krass.«
Das deutete Michael als Zustimmung und ging hinein. Als er auf die Veranda zurückkehrte, lehnte Seth am Geländer; sein Rad lag auf der Schottereinfahrt.
Michael setzte sich. Eigentlich hätte er diesen Jungen gut kennen müssen – schließlich hatte er eine Ewigkeit hier herumgehangen. Früher waren Betsy und er unzertrennlich gewesen. Aber ehrlich gesagt, hatte Michael in all den Jahren höchstens zehn Worte mit Seth gewechselt. Es war das Gleiche wie mit Carl. Michael hatte einfach nichts mit ihnen gemeinsam. Bis jetzt.
»Also, Seth, was ist da zwischen dir und Betsy los? Früher wart ihr doch dicke Freunde. Und auf einmal sieht man dich gar nicht mehr.«
»Sie hängt jetzt mit ein paar Mädels ab – die ich nur Gewitterhexen nenne. Sierra und Zoe. Und die halten mich für einen Loser. Wahrscheinlich findet Betsy das jetzt auch.«
Michael runzelte die Stirn. »Ich kann mich nicht erinnern, dass sie so was gesagt hätte.«
»Dann denken Sie noch mal nach«, murmelte Seth. »In der Schule bin ich nicht besonders beliebt.«
»War ich auch nicht«, erwiderte Michael. »Aber der Quarterback – Jerry Lundberg, einst der beliebteste Schüler – sitzt jetzt im Gefängnis. Wahrscheinlich war die High School der Höhepunkt seines Lebens.«
Seth trank einen Schluck Cola. Dann sagte er: »Gestern gab es einen Bombenangriff. Ich hab’s auf CNN gesehen. Ein Helikopter ist abgeschossen worden. Wussten Sie, dass beim Tod eines unserer Soldaten alle Kommunikationskanäle geschlossen werden, bis die Angehörigen benachrichtigt wurden? Also hab ich auf einen Anruf gewartet. Aber es geht ihnen gut.«
Michael hatte den ganzen Tag im Gericht verbracht. Und als er nach Hause kam, hatte er sich nicht die Nachrichten angesehen. »Das wusste ich nicht«, gab er mit gepresster Stimme zu.
»Mom schickt mir ständig Fotos von sich und Jolene. Die sehen aus wie Urlaubsfotos: mit Mädels, die sich amüsieren. Sie hält mich wohl für dumm.«
»Nein«, sagte Michael leise. »Ganz bestimmt nicht.«
Seth sah ihn an. »Mein Dad meint, wir müssen nur fest dran glauben, dass ihr nichts zustößt, dann passiert ihr auch nichts.«
»Aha.« Michael starrte auf seine halbleere Bierflasche.
»Ich hab Angst, sie zu vergessen.«
Michael wandte den Blick ab. Er wusste, wie man jemanden vergessen konnte. Schließlich war ihm das selbst passiert. Hatte er nicht Jolene vergessen, noch während sie an seiner Seite war?
Es fiel ihm gar nicht auf, wie lange er geschwiegen hatte, bis Seth sich räusperte. »Danke für die Cola, Mr Z. Ich fahre jetzt mal besser. Wenn ich zu spät komme, ruft meine Grandma die Nationalgarde – und in unserer Familie ist das kein Witz. Sie ruft Ben Lomand an, und der staucht mich dann zusammen.«
Michael lächelte. »War schön, mit dir zu reden, Seth. Grüß deinen Dad von mir.«
Als der Junge ging, rief Michael ihm nach: »Du solltest mal vorbeikommen und Betsy besuchen.«
Seth drehte sich zu ihm um. Michael war überrascht, wie traurig seine dunklen Augen wirkten. »Schön wär’s.«
Wenn Dante in heutiger Zeit gelebt hätte, wäre Shopping im Einkaufszentrum mit einer pubertierenden Tochter wohl einer der Höllenkreise gewesen, da war Michael sich ganz sicher. Vor allem, wenn man ein Geburtstagsgeschenk für die zwölfjährige On-Off-Freundin der Tochter suchte. Sie waren mittlerweile seit einer Stunde unterwegs, ohne etwas gefunden zu haben. Er hätte schreien können, so satt hatte er es, sich Glitzerhaarreifen, T-Shirts mit ausgefranstem Kragen und Poster von Boygroups anzusehen.
Jetzt schlenderten sie durch die Kosmetikabteilung bei Wal-Mart. Lulu war wie ein Pitbull an der Leine und zerrte Michael ständig von einem billigen Glitzerdings zum nächsten.
»Da.« Betsy zeigte auf einen kleinen
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