Zwischen uns das Meer (German Edition)
sie.
»Ja, dieses Mal.«
»Ich vergesse sie langsam.« Betsy holte das neueste Foto hervor, das Jolene ihnen geschickt hatte, und hob es in die Höhe. »Das … das ist sie nicht. Sie ist nicht nur Soldat.«
Alles, was er hätte sagen können, wäre eine Lüge gewesen. »Lass uns ins Crab Pot gehen und dort ein Foto von ihr angucken. Dann erinnerst du dich wieder an sie.«
Sie nickte.
Aber das war nicht genug.
Er griff nach ihrer Hand. Manchmal blieb einem nichts anderes, als sich an etwas festzuhalten.
Nach dem Essen ging Michael mit den Mädchen nach Hause und sah ihnen nach, als sie die Treppe hinaufrannten. Er fühlte sich ausgelaugt. Er hätte wissen müssen, wie sehr es ihm zusetzen würde, im Crab Pot zu essen. Jolenes Abwesenheit war dort noch deutlicher spürbar. Lulu und Betsy hatten gut zehn Minuten lang die Polaroidfotos angestarrt, die ihre Mom an die Wand geheftet hatte. Lulu wollte nicht mal was essen – sie klammerte sich nur an ihre Anstecknadel mit den Flügeln und weinte.
Jetzt goss er sich einen Drink ein und starrte hinaus in die Nacht, die sich gerade über die Bucht senkte. Er hörte, dass Lulu zu ihm trat. Wie ein Äffchen kletterte sie an ihm hoch und klammerte sich an seine Hüfte. »Betsy weint, Daddy«, sagte sie mit ihrer quiekenden Stimme.
Seufzend gab er ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Wegen Mommy«, fügte sie hinzu und brach in Tränen aus. »Sie ist verwundert oder vermisst worden, oder?«
Er drückte Lulu fester an sich. »Nein, Schatz. Mommy geht’s gut.«
»Ich vermisse meine Mommy.«
Er wiegte sie tröstend hin und her, bis ihre Tränen versiegten. Als sie sich beruhigt hatte, setzte er sie aufs Sofa und legte Die kleine Meerjungfrau ein. Damit wäre Lulu eine Weile beschäftigt. Natürlich hätte sie längst im Bett sein sollen. Schließlich war es schon spät. Aber er musste immer wieder an Jo denken, und an das, was ihr zustoßen konnte.
Automatisch machte er sich auf den Weg in sein Arbeitszimmer. Er ging hinein und schloss die Tür. Seine Hände zitterten; das Eis im Glas klirrte leise.
Es hätte sein können.
Er ließ sich aufs Sofa sinken und neigte den Kopf. Betsy befürchtete, ihre Mutter zu vergessen. Aber Michael hatte Jolene schon vor langer Zeit vergessen, oder? Er hatte mit ihr gelebt, mit ihr geschlafen und irgendwie die Frau vergessen, die er geheiratet hatte. Er blickte nach links zu einem gerahmten Foto von ihm und Jolene; es war Jahre zuvor im Arboretum von Seattle aufgenommen worden. Damals waren sie jung und sehr verliebt gewesen. Sieh mal, Michael, die Entenfamilie, eines Tages werden wir auch so mit unseren Kleinen im Schlepptau herumwatscheln … Das war die Jo, an die er sich erinnerte; so, wie sie auf diesem Foto strahlte.
Als er sich erhob, war er etwas wackelig auf den Beinen. Am Bücherregal blieb er stehen und zog ein ledergebundenes Fotoalbum und eine alte Videokassette hervor. Er klemmte sie sich unter den Arm, ging ins Familienzimmer, bat Lulu, ihm zu folgen, und ging mit ihr nach oben.
Er klopfte an Betsys Zimmertür. »Können wir reinkommen?«
»Ist gut.«
Er hob Lulu auf den Arm, trug sie ins Zimmer und setzte sie neben Betsy aufs Bett. Dann nahm er zwischen ihnen Platz und schlug das Fotoalbum auf.
In der Mitte der ersten Seite befand sich, geschützt von selbstklebender Klarsichtfolie, eins der wenigen Fotos, wo seine Frau als junges Mädchen zu sehen war. Sie stand in einer ausgeblichenen Jeans und schäbigem Pulli mit V-Ausschnitt in einem karstigen Gelände. Sie war leicht von der Kamera abgewandt, blickte in die Ferne, und der Wind wehte ihr einige wirre Strähnen ihrer langen blonden Haare ins Gesicht. Links von ihr entfernte sich ein Mann; zu sehen war nur der ausgefranste Saum einer Jeans und ein abgeschabter schwarzer Stiefel.
Jolene hatte oft gesagt, dieses Foto sei repräsentativ für ihr Leben: ihre Mutter war abwesend, und ihr Vater ging fort. Michael hatte dieses Foto schon oft gesehen, doch als er es jetzt genauer betrachtete, fiel ihm auf, wie dünn und knochig Jolene wirkte. Ihre Haare sahen aus, als hätten sie seit Wochen keinen Kamm mehr gesehen, und ihr trauriger Blick war herzzerreißend. Sie beobachtete, wie sich der Mann entfernte. Wieso war ihm das nicht früher aufgefallen?
»Da ist sie etwa fünfzehn. Nicht viel älter als du jetzt, Bets.«
»Sie sieht traurig aus«, stellte Betsy fest.
»Weil wir noch nicht da waren«, verkündete Lulu und wiederholte damit, was Jolene immer bei diesem
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