Zwischen uns das Meer (German Edition)
liebt mich nicht mehr – wenn seine Worte nicht ausreichten, so würden es jetzt seine ausbleibenden Briefe beweisen –, aber liebe ich ihn noch?
Die Wahrheit ist, dass ich am Ende doch um ihn kämpfen würde. Das weiß ich. Ich würde um einen Mann kämpfen, der nicht mehr bei mir bleiben will.
Genau wie meine Mutter.
Ende Juli hatten Michael und die Mädchen zu einer passablen Routine gefunden. Diese Woche verbrachte Betsy in einem Sommercamp auf Orcas Island, wo sie Kajakfahren lernte; Lulu war das Wochenende über bei ihrer Großmutter. Michael hatte gehört, sie wollten etwas aus Makkaronis basteln.
Ohne sie war es still im Haus. Vielleicht zu still.
Es wurde langsam dunkel, und die Nacht brach herein. Nach einem Tag in der Kanzlei war Michael nach Hause gekommen, hatte eine Schüssel Müsli gegessen und dann wieder angefangen zu arbeiten. Er hatte endlich eine Aufstellung von Keith Kellers militärischer Laufbahn bekommen. Diese lag jetzt zusammen mit Protokollen von Befragungen auf dem Küchentisch. In der vergangenen Woche hatte Michael sowohl mit Ed und seiner Frau als auch mit Dr. Cornflower gesprochen. Außerdem gab es eine Liste mit potenziellen Zeugen – Armeeangehörigen und Zivilisten.
So wie es aussah, war Keith ein ganz normaler Junge aus einer Kleinstadt gewesen, bevor er in den Krieg zog. Er hatte Stipendien seiner Gemeinde bekommen, Home Runs geschafft und die High School abgeschlossen. Er hatte sich in das Mädchen von nebenan verliebt. Ihre Hochzeitsfeier fand mit DJ und Büfett im Country Club statt, und ihre Hochzeitsreise ging nach Honolulu.
Und dann: der 11. September.
Dieser Tag hatte Keiths Leben verändert. Ein Freund von ihm hatte im Flug 93 gesessen. Es war ein Klassenkamerad, der sich im Osten Colleges ansehen wollte. Als Keith vom Absturz hörte und Amerika plötzlich und unerwartet vom Terrorismus bedroht war, hatte er sich bei den Marines gemeldet.
So war er eben , hatte Ed kopfschüttelnd gesagt. Keith wollte zur Lösung des Problems beitragen.
Also ging Keith erst ins Bootcamp und zog dann in den Krieg. Er war zweimal im Irak, und jedes Mal, wenn er zurückkam, ähnelte er weniger dem Jungen von einst.
Michael blätterte durch die Hintergrundinformationen, die sein Team zusammengetragen hatte. Keith war im Sunniten-Dreieck gewesen, der gefährlichsten Kriegszone. Unsere Brigade wurde ein Jahr lang mindestens zweimal pro Tag bombardiert , hatte Keith erzählt. Das bedeutet eine Menge Scheiß, der dir um die Ohren fliegt. Viele Freunde, die sterben … als ich nach Hause kam, waren das Schlimmste die Geräusche. Wenn jemand eine Tür knallte oder ein Wagen eine Fehlzündung hatte, warf ich mich auf den Boden. Wenn es plötzlich hell wurde, flippte ich vollkommen aus.
Michael lehnte sich zurück. Wieso hatte er nie etwas von den Todesfällen und der allgegenwärtigen Zerstörung mitbekommen? Von dem, was die Soldaten durchmachen mussten? Schließlich schrieben sie das Jahr 2005. Der Krieg dauerte schon eine ganze Weile. Die Tatsachen hätten viel präsenter sein müssen. In den Spätnachrichten hätte man Bilder von Särgen zeigen müssen, die in die amerikanische Flagge gewickelt in Frachtflugzeuge geschoben wurden. Von Helden, die in Kisten verpackt nach Hause kamen.
Er stand auf und entfernte sich vom Tisch. Der Fall Keller ging ihm langsam ziemlich an die Nieren, und das nicht aus den üblichen Gründen. Je mehr er über seinen Klienten las, desto mehr machte er sich Sorgen um Jolene.
Er holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, ließ den Deckel aufspringen und ging auf die Veranda. Er umfasste die faserige weiße Lehne des Rattansessels, setzte sich aber nicht. Wieso neue Möbel kaufen?, hatte Jolene gesagt, als sie diesen Sessel am Straßenrand fanden. Damals hatten sie hauptsächlich von Luft und Liebe gelebt, und er hatte ihr einfach nichts abschlagen können, nicht mal einen kaputten, alten Verandastuhl. Ich möchte, dass ein Möbelstück eine Geschichte hat.
Die Nachtluft war still. Irgendwo gab ein Kojote ein langgezogenes, elegisches Heulen von sich.
Unten an der Straße bog ein Fahrrad in die Einfahrt der Flynns ein: Seth. Plötzlich erinnerte sich Michael daran, wie Betsy und Seth vor Jahren ständig miteinander geradelt waren – und Jolene sich unentwegt Sorgen gemacht hatte …
Michael winkte Seth.
Seth sah es und kam zu ihm herübergeradelt.
»Hey, Seth«, sagte Michael, als der Junge im Licht der Garage auftauchte. Wie immer wirkte er mit
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