Zwischen uns die halbe Welt: Sommerflirt 2 (German Edition)
gibt.
»Ich? Nichts.« Ich lasse die Zeitung in meinem Rucksack verschwinden.
»Amy«, sagt Jess. »Ich habe doch genau gesehen, dass du die Kontaktanzeigen gelesen hast.«
»Na gut, du hast mich ertappt.« Ich halte ihr die Zeitung hin. »Sieh dir mal diese Annoncen an. Sie … sie verraten so viel über das Leben dieser Leute.« Da kommt man sich vor wie ein Voyeur.
Jess beugt sich zur mir und wir lesen beide:
Stier mit großem Herzen
Einsame weiße Sie, 38, 1,55 m, liebt Faulenzen, Musik, Tanzen, Casinos und Essengehen. Suche weißen Ihn, 30–40, der faule Frauen mag, für feste Beziehung. Keinen ONS.
»Das kann nicht ihr Ernst sein«, sage ich.
Jessica kichert. »Wer will schon eine, die immer nur auf der Couch hängt?«
Wir stecken die Köpfe zusammen und lesen weiter:
Profi-Model
Sexy, single, weiß, 28, 1,74, 55 kg, blond, blauäugig ist offen für Neues und hat gern Spaß. Ich suche dich, single, weiß, männl., 25–65, für feste Beziehung. Keinen ONS.
Jetzt bin ich ernsthaft verwirrt. »Kannst du mir bitte sagen, was ONS bedeutet?«
»One-Night-Stand.«
Ah. Anscheinend habe ich den Kontaktanzeigen-Fachjargon nicht ganz drauf. »Was will denn ein blondes Mager-Model mit einem Fünfundsechzigjährigen?« Die Faulenzerin konnte ich ja noch verstehen, aber das Model?
Ich rufe Marla zu uns an den Tisch.
»Mehr Schlagsahne?«
»Nein, danke«, sage ich. »Warum gibt ein Model eine Kontaktanzeige für eine feste Beziehung auf?«
»Hä?«
Jess hält Marla die Zeitung hin.
»Lacht nicht«, meint Marla. »Ich kenne massenhaft Leute, die ihren Seelenverwandten im Internet oder über eine Kontaktanzeige kennengelernt haben.«
Jess nimmt einen Schluck von meiner heißen Schokolade. »Amy kann das nicht verstehen. Für sie ist Avi perfekt, stimmt’s?«
Ich lächle bei der Erwähnung meines Nicht-Freundes, der seinen Dienst in der israelischen Armee leistet. Wir können nicht so richtig zusammen sein, weil er eine Milliarde Meilen weit weg ist. Und er ist nicht perfekt. Ein perfekter Freund würde nicht in einem anderen Land leben. »Wie läuft’s mit Mitch?«, frage ich Jess. »Letzte Woche hast du mir erzählt, Gott hätte ihn nur für dich geschaffen.«
Sie verzieht das Gesicht. »Erwähne nicht diesen Namen in meiner Gegenwart.«
Das klingt nicht gut. »Also, was ist los?«
Jess seufzt. »Na ja, er hat seit zwei Tagen nicht angerufen und dabei steht der Valentinstanz vor der Tür. Man sollte denken, wenn er mit mir hinwill, dann hätte er längst gefragt. Meine Mom will mit mir ein Kleid kaufen gehen, aber ich hab noch nicht mal eine Verabredung.« Sie ist den Tränen nahe. »Und ich habe heute Morgen mein Lächeln im Spiegel überprüft und gemerkt, dass mein Gesicht irgendwie schief ist.«
»Unsinn.«
»Kein Unsinn. Schau«, sagt sie und lächelt, als hätte sie Schmerzen. »Die rechte Seite meines Mundes hängt nach unten.«
»Komm, wir gehen in den Hundepark«, schlage ich vor, um einen Mitch-ist-scheiße-und-mein-Gesicht-völlig-verzerrt-Anfall abzuwenden. Glaubt sie wirklich, Gott kann sich auch noch darum kümmern, dass jeder völlig symmetrisch ist? Also echt, ein klein wenig Nachsicht mit dem großen Kerl da oben. Außerdem ist Jess ein Hypochonder und übertrieben kritisch mit sich selbst – das geht schon seit der dritten Klasse so, als sie dachte, sie hätte Läuse, dabei waren es nur so Schüppchen vom billigen Haarspray. Sie sollte sich mal locker machen und ihre Energie in andere Bahnen lenken. Stichwort positives Denken. »Ich muss mit Köter Gassi gehen.«
Köter ist mein Hund. Und ja: Er ist ein Köter. Avi hat ihn mir geschenkt, bevor ich aus Israel heimgeflogen bin. Er ist eine absolute Promenadenmischung. Anfangs war er ein kleines Fellknäuel, aber in den letzten zwei Monaten hat er seine Größe verdreifacht.
Oben in unserer Wohnung hole ich meinen Hund und die Kacktüten. Jess und ihr zu einem Tausendstel Millimeter schiefes Gesicht warten draußen auf mich.
»Oh Gott, er ist ja noch größer als beim letzten Mal«, sagt sie, wobei bei jedem Wort kleine Dampfwolken in die Winterluft aufsteigen.
»Ich weiß. Wenn er so weiterwächst, muss ich mir bald ein Kingsize-Bett zulegen, damit wir beide reinpassen«, sage ich und ziehe meine North-Face-Jacke enger um mich. Die Touristen wundern sich immer, warum wir uns Chicago und dieses kalte Winterwetter ausgesucht haben, wenn wir doch zur selben Zeit in Shorts rumlaufen könnten, würden wir in Arizona leben.
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