Zwischen uns die halbe Welt: Sommerflirt 2 (German Edition)
könnt.« Tarik geht zurück zur Fahrerseite, ruft jedoch über die Schulter: »Sagt einfach Bescheid, wenn ihr mich braucht.«
Ich bin in Versuchung, »Bescheid« zu sagen.
Avi wirft seinen Seesack auf den Rücksitz von Tariks Wagen und dreht sich zu mir um. »Ich rufe dich an, bevor ich Chicago verlasse.«
»Ich wollte mit dir auf den Sears Tower hoch. Da muss man als Tourist unbedingt hin.«
»Das mache ich allein.«
»Und was ist mit Oz Park? Wusstest du, dass der Autor des Zauberers von Oz dort gewohnt hat?«
»Das kriege ich schon hin.«
»Aber wenn nicht, Avi? Was ist, wenn du nach Israel zurückkehrst, ohne gesehen zu haben, was Chicago alles zu bieten hat?«
Avi legt seine Hand um meine Wange. »Es muss nicht immer alles perfekt sein. Das Leben ist nicht perfekt.«
»Ich will es aber.«
Sein Daumen streicht sanft über mein Gesicht. »Ich weiß. Das macht dich so besonders.« Er presst die Augen zusammen. »Ich muss gehen, bevor ich eine Dummheit mache.«
Ich sehe zu, wie er auf der Beifahrerseite einsteigt und etwas zu Tarik sagt. Dann fährt das Auto davon.
Da stehe ich – allein, weinend und völlig am Boden zerstört. Ich bin kurz davor, mich hier an Ort und Stelle hinzuknien und wieder hemmungslos loszuschluchzen.
»Du heulst doch nicht wegen diesem Kerl, oder?«, höre ich Nathans Stimme hinter mir.
Ich drehe mich zu ihm um und sehe ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Spionierst du mir schon die ganze Zeit hinterher?«
»Nö. War die Trennung sehenswert? Hab ich was verpasst? Das wäre schade.«
Ich gehe zu Nathan, hebe die Hand und stoße ihm mit dem Finger vor die Brust. »Du bist der unverschämteste, egozentrischste, drachenäugigste, rücksichtsloseste, egoistischste …« Ich zermartere mir das Hirn auf der Suche nach weiteren Wörtern, als Nathan meinen Finger in seine Hand nimmt, damit ich ihn ihm nicht wieder in die Brust bohren kann.
Nathans Berührung löst in mir bei Weitem nicht das aus, was Avis Berührungen mit mir machen. Und zum ersten Mal ist klar, dass Nathan nicht »der Richtige« ist und es nie war. Irgendetwas ist da zwischen uns, aber es ist so ganz anders als das zwischen Avi und mir.
Ich bin zu schwach, um etwas anderes zu tun, als meine Schultern nach vorn sacken zu lassen und zu weinen. Der Schmerz ist zu groß – als würde jemand mir das Herz rausreißen und es fest zusammenquetschen. Meine Knie geben nach und Nathan fängt mich auf.
»Dir geht’s wirklich mies, oder? Du bist ja total aufgelöst«, sagt er, und seine Augenbrauen wandern nach unten und ziehen sich vor Mitleid zusammen. Ich habe Nathan noch nie Mitgefühl zeigen sehen … vor allem nicht mir gegenüber.
Ich schließe die Augen. »Ich bin eben doch nicht so Plastik, wie du mir unterstellst.«
»Nein, anscheinend nicht. Hör mal, Amy, es tut mir leid. Du hast recht mit dem, was du über mich gesagt hast. Na ja, bis auf die Sache mit dem drachenäugig.«
»Was?«
»Ich habe Spielchen mit dir gespielt. Und mit deinem Freund. Das war nicht fair, ich weiß. Manchmal möchte ich einfach, dass die anderen genauso ein Scheißleben haben wie ich. Stell es dir als Selbstverteidigungsmechanismus vor.«
Er stellt mich wieder auf die Beine und ich wische mir Nase und Augen mit dem Ärmel meines Shirts ab. »Was ist so schlecht an deinem Leben, Nathan? Wer bist du? Erzähl mir von dir, damit ich mich besser fühle mit meinem eigenen Scherbenhaufen.«
Ich weiß, warum ich unsicher bin: Mein Dad ist gerade erst wieder in mein Leben getreten, meine Mom und ihr neuer Mann planen einen Familie ohne mich … und ich kann nicht genau sagen, wen ich eigentlich als meine Familie bezeichnen kann.
»Ich bin ein Pflegekind. Mit zehn haben meine Eltern mich weggegeben, weil sie sich acht Kinder nicht mehr leisten konnten. Seitdem wurde ich von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht.«
Wartet mal, das verstehe ich nicht. »Ich dachte, Mr und Mrs Keener wären dein Onkel und deine Tante?«
»Nach einem Blick in meine Akte wollte mich keine Pflegefamilie mehr aufnehmen, sodass man sie mehr oder minder per Gerichtsbeschluss dazu gezwungen hat. Meine Tante und mein Onkel sprechen nicht mit meinen Eltern. Sie haben vor langer Zeit den Kontakt abgebrochen. Irgendwas von wegen Abschaum heiraten macht einen selbst zum Abschaum.«
Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Eltern mich weggegeben hätten. Auch als mein Dad und ich kaum etwas miteinander zu tun hatten, hat er sich doch immer um mich
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