Zwischen uns die Zeit (German Edition)
Oktober, 2011
Lieber Bennett,
ich habe Angst, zu viel zu sagen und damit womöglich gegen eine der Regeln zu verstoßen, die du mir einmal beigebracht hast, aber ich hoffe, dass ich meine Worte sorgfältig genug gewählt habe. Eines Tages wirst du sehr viel besser verstehen, was es mit unserem kurzen Treffen und diesem Brief auf sich hat, jetzt bleibt dir erst einmal nichts anderes übrig, als mir zu vertrauen.
Ich habe in den vergangenen sechzehn Jahren ein schönes Leben geführt. Obwohl es nicht das tollkühne Abenteuer war, das ich mir erhofft hatte, bin ich eigentlich die meiste Zeit glücklich gewesen. Trotzdem konnte ich nie vergessen, dass du mir einmal die Möglichkeit geboten hast, mich für einen von zwei Wegen zu entscheiden. Ohne es zu wollen – und ich glaube, du hättest es ebenso wenig gewollt –, bin ich irgendwie auf dem falschen Weg gelandet, dem, für den ich mich ursprünglich gerade nicht entschieden hatte.
Dass ich dich heute angesprochen und dir diesen Brief gegeben habe, hat mir mehr Mut abverlangt als alles andere, was ich in meinem Leben bis jetzt getan habe, aber ich muss diese Chance nutzen, um herauszufinden, wohin mich der Weg, den ich eigentlich hatte gehen wollen, geführt hätte.
Eines Tages in naher Zukunft werden wir uns begegnen, Bennett, und dann wirst du wieder verschwinden. Für immer. Aber ich denke, ich habe eine Möglichkeit gefunden, wie ich das, was damals falsch gelaufen ist, korrigieren kann. Alles hängt davon ab, dass ich eine andere Entscheidung treffe. Sag mir bitte, dass ich selbst bestimmen muss, wie ich leben will, und das, was ich tue, nicht von dir abhängig machen darf. Sag mir bitte, dass ich nicht darauf warten soll, dass du wieder zurückkehrst. Ich glaube, das wird unsere Geschichte komplett neu schreiben.
In Liebe, Anna
Ich schreibe meinen Namen in Unterschriften immer mit einem großen a, das wie ein kleines aussieht– rund statt spitz zulaufend. Offensichtlich werde ich das im Jahr 2011 immer noch so machen.
» Ist dieser Brief von… mir?«
Bennett nickt.
» Von… einem zukünftigen Ich?« Was ich sage, muss sich für jeden anderen Menschen völlig absurd anhören, aber er nickt nur noch einmal, als wäre es das Normalste der Welt.
» Wie lange hast du ihn schon?«, frage ich und muss mich selbst daran erinnern zu atmen.
Er zeigt auf das Datum oben rechts. » Seit letztem Oktober.« Seine Stimme klingt schuldbewusst.
» Das heißt, dass du ihn gelesen hast… bevor du nach Evanston gekommen bist?«
» Ganz oft, ja.«
Ich denke an seinen ersten Tag an der Schule zurück, als ich ihm in der Cafeteria meinen Namen gesagt habe und er blass wurde. Er kannte mich. Wir hatten uns schon einmal unterhalten. Fünf Monate vorher. Sechzehn Jahre später.
Mir wird schwindelig.
Bennett greift nach meinen Händen. » Bitte versuch mich zu verstehen, Anna. Ich bin nur nach Evanston gekommen, um dort auf Brooke zu warten. Ich war mir sicher, dass sie ein paar Tage später dort auftauchen würde und wir wieder nach San Francisco zurückkehren würden. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich dir dort begegnen würde. Kannst du dir vorstellen, was für ein Schock es war, als ich dich in der Cafeteria gesehen habe? Ein Mädchen mit dunklen Locken und großen braunen Augen? Und wie es dann war, als ich deinen Namen hörte und begriff, dass du es bist. Dass du Anna bist.« Er deutet auf den Brief. » Die Frau, die mich fünf Monate vorher in einem Park angesprochen und mir diesen Brief gegeben hat. Und auf einmal saßt du mir im Jahr 1995 in der Schulcafeteria einer Stadt gegenüber, in der ich gar nicht sein wollte…« Seine Stimme bricht. » Am Anfang habe ich versucht, dir einfach aus dem Weg zu gehen, und wahrscheinlich wäre es das Beste gewesen, wenn ich das weiter durchgehalten hätte. Mir ging die ganze Zeit dieser Satz aus deinem Brief durch den Kopf, dass ich dich dein eigenes Leben führen lassen muss. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten sollte. Ich wusste nur, dass ich nicht schuld daran sein wollte, dass du den falschen Weg einschlägst.« Er zeigt wieder auf den Brief. » Ich wollte nicht, dass du meinetwegen ein Leben führen musst, das du dir so nicht erträumt hast.«
Und plötzlich begreife ich. Ich weiß nicht, weshalb ich so lange dafür gebraucht habe, aber jetzt steht es in aller Deutlichkeit vor mir. Er kommt nicht zurück. Er bleibt nicht in Evanston. Wir verlieren einander für sechzehn Jahre oder länger aus den
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