Zwischen uns die Zeit (German Edition)
schon längst wieder da. Es ist Zeit, aufzuhören, mir etwas vorzumachen. Ich muss mir eingestehen, dass er seine Fähigkeiten überschätzt hat. Er hat seine wundersame Gabe eben doch nicht hundertprozentig im Griff. Irgendetwas muss geschehen sein, das es ihm unmöglich macht, ins Jahr 1995 zurückzukommen. Und daran wird sich nichts ändern, wenn ich nicht eine andere Entscheidung treffe. Nur habe ich leider keine Ahnung, welche das sein könnte.
Ich stelle mich vor die Weltkarte und betrachte sie so lange, bis die Kontinente vor meinen Augen verschwimmen. Dann strecke ich die Hand aus und verbinde die acht kleinen roten Nadeln mit unsichtbaren Linien. Ich bewege den Zeigefinger vor und zurück und auf und ab, während ich Muster zu finden versuche, die all diese Orte miteinander verbinden. Schließlich verharrt mein Finger auf Evanston, und ich zeichne einen kleinen Kreis um die vier Nadeln, mit denen ich angefangen habe: Illinois. Minnesota. Michigan. Indiana. Anschließend lege ich ihn auf San Francisco und ziehe einen größeren Kreis, der Ko Tao, Vernazza und den Devil’s Lake State Park in Wisconsin umschließt.
Es hätten so viel mehr Nadeln sein können.
Ich gehe zum Schreibtisch, um den Behälter mit den Stecknadeln zu holen, und kehre zur Karte zurück. Ich nehme eine heraus, blicke zwischen dem roten Kunststoffkügelchen und der Karte hin und her und stecke die Nadel dann entschlossen in den Punkt, der Paris markiert. Als Nächstes ist Madrid dran. Danach trete ich einen Schritt zurück und sehe mir das Ergebnis an. Schon viel besser. Ich greife wieder in den Behälter, markiere weitere Ziele.
Sydney.
Tokio.
Tibet.
Auckland.
Dublin.
Costa Rica.
São Paolo.
Prag.
Los Angeles.
Ich nehme eine Nadel nach der anderen aus dem Behälter und stecke sie ins Papier, bis es auf der Karte vor roten Punkten nur so wimmelt. Ich markiere Orte, die ich nie im Leben gesehen habe und ganz bestimmt nie sehen werde – bis der Behälter so leer ist, wie ich mich innerlich fühle.
Juni
35
Letzte Woche war ich traurig. Diese Woche bin ich wütend. Ich bin wütend auf Bennett, der mir die ganze Zeit über nichts von diesem Brief erzählt hat, in dem doch alles stand, ich bin wütend auf meine Freunde, die von mir erwarten, weiterzumachen, als wäre nie etwas geschehen, vor allem aber bin ich wütend auf mich selbst, weil ich jegliche Vorsicht vergessen und mich auf ihn eingelassen habe wie auf einen ganz normalen Jungen.
Der er nicht war.
» Practiquemos la conversación!« Señor Argotta geht zwischen den Stuhlreihen hindurch, bestimmt Zweierteams und verteilt seine laminierten Karten. Ich balle die Fäuste. Mir wird Alex als Partner zugeteilt. Natürlich. Ich verdrehe die Augen und rücke meinen Stuhl so, dass wir uns gegenübersitzen.
» Hola, guapa!« Alex strahlt mich mit seinem lasergebleichten Prachtgebiss an. » Wo hast du am Samstag gesteckt? Wir haben dich schwer vermisst.«
Wenn er mich erst am Donnerstag fragt, wo ich war, kann er mich nicht so sehr vermisst haben. Ich zucke mit den Schultern. » Ich trainiere gerade viel für die State-Championship.«
» Wie? Sogar Samstagabends?«
» Nein, Alex«, fauche ich. » Aber stell dir vor, ich laufe jeden Morgen. Auch Sonntags.« Ich bekomme sofort ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn so angefahren habe, schließlich hat er es ja nur nett gemeint, entschuldige mich aber nicht, sondern zeige nur mit dem Kinn auf die Karte. » Also, was steht drauf?«
Er greift danach, liest sie und grinst. » Wow. Diesmal haben wir eine wahre Perle erwischt. Der liebe Argotta hat sich selbst übertroffen.« Er legt eine dramatische Pause ein und liest laut vor: » Partner A bewirbt sich um eine Stelle als Kellner/in in einem von Madrids exklusivsten Restaurants. Partner B ist der/die Restaurantbesitzer/in.«
Ich beiße die Zähne zusammen und kann nur mühsam den Impuls beherrschen, irgendetwas gegen die Wand zu schleudern.
» Was willst du sein?«, fragt Alex, der von meinem inneren Aufruhr nichts mitzubekommen scheint. » Kellnerin oder Restaurantchefin?«
» Weder noch!« Ich springe auf, lasse einfach alles stehen und liegen und stürme an dem entgeistert schauenden Señor Argotta vorbei zur Tür hinaus.
» Señorita Green, wo wollen Sie denn hin?«, ruft er mir nach.
Ohne mich noch einmal umzudrehen, renne ich blindlings den Flur entlang, an den Schließfächern vorbei und stoße ein paar Meter weiter mit Danielle zusammen.
Sie bückt sich nach ihrer
Weitere Kostenlose Bücher