Zwischen uns die Zeit (German Edition)
Tasche, die ihr von der Schulter gefallen ist. » Hey, was zum…?«
Ich wische mir die Tränen aus den Augen. » Tut mir leid.«
Sie will etwas sagen, dann sieht sie, dass ich weine. » Anna? Was ist denn los?«
Ich schüttle den Kopf. » Nichts. Vergiss es. Ich muss hier raus.«
» Anna!«, ruft sie mir hinterher, aber da bin ich schon an der Doppeltür angekommen, die nach draußen führt, stoße sie auf und renne an den einzigen Ort, der mir einfällt, an dem ich vielleicht so etwas wie Trost finden kann.
***
Er ist hier.
Nicht so, wie ich es mir wünsche, aber auf die einzige Art, auf die ich ihm nah sein kann. In Form eines Babyfotos, das gerahmt auf dem Kaminsims steht, und in den meerblauen Augen seiner Großmutter, die nicht fragt, was ich an einem ganz normalen Schultag um elf Uhr vormittags in ihrer Küche zu suchen habe. Wir sitzen am Tisch, trinken Tee und reden wenig. Sie hat Unmengen von Fragen, spricht sie aber nicht aus, weil sie weiß, dass ich sie nicht beantworten werde, obwohl ich es könnte. Also sitzen wir uns gegenüber und die Stille wird nur dann und wann vom Klirren des Porzellans durchbrochen, wenn eine von uns ihre Tasse auf die Untertasse stellt.
» Letzte Woche habe ich angefangen, sein Zimmer auszuräumen«, fängt Maggie irgendwann doch an zu sprechen. » Ich dachte, ich stelle seine Sachen erst einmal auf den Dachboden, bis…« Sie beendet den Satz nicht, aber ich muss unwillkürlich lächeln, weil ich weiß, was sie sagen wollte. Es tröstet mich, dass sie davon ausgeht, dass er eines Tages zurückkommt. » Gibt es…?« Sie zögert. » Gibt es vielleicht irgendwas, das du für ihn aufbewahren möchtest?«
Ich nicke stumm und sie macht mir ein Zeichen, ihr zu folgen. Wir gehen die Treppe hinauf, an den Fotos vorbei, die Maggie als junge Frau und Bennetts Mutter als kleines Mädchen zeigen, auf das Zimmer zu, in dem Bennett– vorübergehend– gewohnt hat.
Maggie öffnet die Tür, aber statt den Raum zu betreten, legt sie kurz die Hand auf meine Schulter, dreht sich um, schließt die Tür hinter mir und lässt mich allein.
Am Fenster stehen ein paar Umzugskartons, ansonsten sieht der Raum völlig unverändert aus. Ich öffne den Schrank, spähe hinein und sehe seinen Schulblazer mit dem Wappen der Westlake Academy auf der Brusttasche und ein paar andere Kleidungsstücke, in denen ich ihn nie gesehen habe, weil wir uns dazu nicht lang genug gekannt haben. Ich entdecke auch seinen Wollmantel und obwohl es im Zimmer brütend warm ist, schlüpfe ich hinein, klappe den Kragen hoch und atme seinen Duft ein.
Widerstrebend hänge ich den Mantel zurück, schließe den Schrank wieder und gehe zum Schreibtisch. Er ist vollkommen leer geräumt, noch nicht einmal ein Stift liegt darauf. Ich setze mich auf den hölzernen Drehstuhl, ziehe die oberste Schublade auf und dort finde ich das, was von Bennett in Evanston geblieben ist. Andächtig nehme ich nacheinander alles, was darin liegt, heraus und breite es auf dem Schreibtisch aus. Seinen Schülerausweis. Eine von meinen roten Stecknadeln. Eine Postkarte unseres Strands auf Ko Tao. Die Karte, die ich ihm in Vernazza geschrieben habe. Einen gelben Bleistiftstummel. Einen Karabinerhaken vom Klettern. Einen kleinen goldenen Schlüssel.
Ich schiebe die anderen Sachen beiseite, greife nach dem Schlüssel und gehe damit noch einmal zum Schrank zurück. Eilig nehme ich die alten Fotoalben und Jahrbücher, die am Boden liegen, heraus und staple sie neben mir, bis ein kleines Türchen in der Rückwand zu sehen ist. Ich öffne es mit dem Schlüssel und zum Vorschein kommt ein Fach, in dem mit Gummibändern zusammengehaltene Bündel von Dollarnoten liegen. Hunderter. Zwanziger.
Daneben entdecke ich das kleine zerfledderte Notizbuch, in dem er damals unsere Reise in die Vergangenheit geplant hat, die Emma möglicherweise das Leben gerettet hat. Ich schlage es auf und blättere darin. Jede Seite ist dicht beschrieben mit Zeitleisten, mathematischen Gleichungen, Tabellen, wichtigen geschichtlichen Ereignissen und Namen von Unternehmen sowie deren Aktienkurse. Schließlich komme ich zu der Seite, die er mir damals gezeigt hat, als wir in diesem Zimmer auf dem Bett saßen– die Seite mit den Berechnungen, die er angestellt hat, um uns an jenem Samstagmorgen zurück in unsere Einfahrt zu bringen und zu verhindern, dass Emma nach Chicago fahren kann.
Ich blättere wieder zur ersten Seite zurück und mein Blick bleibt an vertrauten Zeilen hängen.
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