Zwischen uns die Zeit (German Edition)
vorstellen, dass man in so einem Zustand nicht mehr Herr seiner Sinne ist. » Und dann ging es dir die ganze Woche lang schlecht?«
» Immer mal wieder, ja. Am Donnerstag wollte ich eigentlich in die Schule gehen, aber dann bin ich schon mit Kopfschmerzen aufgewacht und hatte Angst, noch einmal so einen Anfall zu bekommen. Ich wollte nicht riskieren, in meiner zweiten Woche an der neuen Schule vor den ganzen Leuten in Ohnmacht zu fallen. Das wäre mir echt peinlich gewesen.«
Ich bin erstaunt, weil er mir nicht den Eindruck gemacht hat, als würde es ihn groß kümmern, was andere über ihn denken.
» Tja, dafür muss ich jetzt übers Wochenende Massen von Hausaufgaben nachholen. Nachdem du gegangen bist, ist eine Sekretärin von der Schule vorbeigekommen und hat mir einen ganzen Packen Arbeitsblätter gebracht.«
Ich nicke. » Das war bestimmt Ms Dawson.«
» Ja, genau. Sie hatte vormittags angerufen und Bescheid gegeben, dass sie nach der Schule bei mir vorbeifährt. Als ich hörte, wie es an der Tür klopft, bin ich eigentlich davon ausgegangen, dass sie es ist. Deswegen war ich auch so überrascht, als du plötzlich im Wohnzimmer standst.«
» Überrascht?« Ich ziehe eine Augenbraue hoch. » Du hast eher geschockt ausgesehen.«
Er legt einen Arm auf die Rückenlehne und rückt näher. » Bitte, Anna, du musst mir glauben, dass es mir wirklich leidtut, wie ich mich vorhin verhalten habe.« Er lächelt betreten und ich schmelze dahin. Unwillkürlich rücke ich ebenfalls ein Stück näher an ihn heran. » Ist schon okay. Ich habe mir vor allem Sorgen um dich gemacht.«
» Du hast mich einfach… komplett aus dem Konzept gebracht.«
» Aus dem Konzept?«
Er lächelt kleinlaut. » Na ja, versetz dich mal in meine Lage. Ich komme gerade ungeduscht, mit fettigen Haaren und Augenringen aus dem Bett und plötzlich steht ein wunderschönes Mädchen vor mir und will mich besuchen…« Er schüttelt verlegen den Kopf. » Mal ehrlich, gibt es etwas Peinlicheres?«
» Mach dir keine Gedanken. Das ist schon okay.« Ich lächle. Wunderschön. Er findet mich wunderschön.
» Danke übrigens, dass du meiner Großmutter nichts gesagt hast. Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht.«
» Klar, das verstehe ich doch.« Ich sehe in seine strahlend blauen Augen und plötzlich liegt eine solche Spannung in der Luft, dass ich froh über den Themawechsel bin. » Deine Großmutter ist wirklich beeindruckend. Sie wirkt total fit und dass sie Alzheimer hat, merkt man ihr überhaupt nicht an.«
Sein Gesicht leuchtet auf. » Ja, sie war immer eine tolle Frau.«
» Und jetzt bist du also aus San Francisco zu ihr gezogen? Wie lange bleibst du denn hier?«
» Voraussichtlich nur einen Monat. Meine Eltern sind in Europa unterwegs und wollten nicht, dass ich allein zu Hause bleibe.«
» Oh«, sage ich und hoffe, dass er mir meine Enttäuschung nicht ansieht. » Das ist ja nicht besonders lang.« Allerdings verstehe ich jetzt, warum er sich nicht darum bemüht hat, in der Schule jemanden näher kennenzulernen.
» Tja… das stimmt wohl.« Er zögert, als würde er wegen irgendetwas mit sich ringen, dann sagt er: » Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?« Er wartet, bis ich nicke.
» Dass meine Eltern verreist sind, ist nicht der einzige Grund, warum ich hier bin.«
» Aha?« Ich beiße von meinem Keks ab, kaue und sehe ihn mit erwartungsvoll hochgezogenen Augenbrauen an.
» Eigentlich wollten sie ursprünglich, dass ich mitkomme, aber dann, na ja… Ich habe ziemlichen Mist gebaut.« Er streicht sich seufzend eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr. » Sagen wir mal so: Es ist besser, wenn ich erst mal eine Zeit lang in Evanston bleibe. Außerdem kann ich hier ein bisschen auf meine Großmutter aufpassen, was auch ganz gut ist. Jedenfalls immer noch besser, als im Jugendknast zu landen.« Er grinst und ich weiß nicht, ob das ein Witz sein sollte oder ob er es ernst meint.
» Also?«, frage ich.
» Also was?«
» Na ja, willst mir nicht erzählen, was du verbrochen hast, weshalb du hier im ewigen Eis festsitzt, statt im sonnigen Kalifornien?«
Er schüttelt leise lachend den Kopf. » Glaub mir, das willst du gar nicht so genau wissen.«
» Ach komm, so schlimm kann es nicht sein. Du hast ja wohl niemanden umgebracht.« Plötzlich werde ich unsicher. » Oder etwa doch?«
Er dreht sein Glas zwischen den Händen und starrt hinein, als würde er nach Kaffeesatz suchen, um darin lesen zu können. » Nein, ich habe
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