Zwischen uns die Zeit (German Edition)
niemanden umgebracht. Aber es ist jemand… verschwunden. Und ich bin schuld daran.«
Wieder sehe ich vor mir, wie er in der Dunkelheit auf der schneebedeckten Parkbank saß und verzweifelt davon redete, dass er sie finden müsse. Ich würde ihn gern fragen, wen er gemeint hat und warum er an ihrem Verschwinden schuld ist, aber als ich seine bedrückte Miene sehe, will ich es ihm nicht noch schwerer machen. Trotzdem hake ich nach. » Okay, aber ein echtes Geheimnis war das noch nicht. War das wirklich alles, was du mir sagen wolltest?«
» Für den Moment schon.« Plötzlich strahlt er mich an. » Erzähl, wie lange wohnst du schon in Evanston?«
» Ist das jetzt unser neues Thema?«
» Das ist jetzt unser neues Thema.«
» Du bist ein seltsamer Junge, Bennett Cooper«, sage ich seufzend. » Aber okay, für heute lasse ich dich damit durchkommen. Und zu deiner Frage: Ich wohne schon mein ganzes Leben lang hier und zwar in demselben Haus, in dem schon mein Vater aufgewachsen ist und davor mein Großvater.«
» Wow.« Bennett sieht mich mit einem Blick an, den ich im ersten Moment für gerührt halte, aber dann kommt mir der Verdacht, dass er mitleidig ist. Als wäre ich ein kleiner Hobbit, der noch nie aus dem Auenland herausgekommen ist.
» Ja, genau.« Plötzlich fühle ich mich wie der langweiligste Mensch auf Erden. » Wow.«
» Hast du nicht manchmal das Bedürfnis… auszubrechen?«, fragt er und scheint sich wirklich für meine Antwort zu interessieren.
Ich würde ihm gern von der Weltkarte in meinem Zimmer erzählen und von meinen Träumen, all die fremden Länder darauf irgendwann mit eigenen Augen zu sehen, aber als ich gerade dazu ansetzen will, wird mir klar, dass sich das für ihn nur noch bemitleidenswerter anhören würde. Davon zu träumen, in ferne Länder zu reisen, ist nun mal nicht dasselbe, wie es zu tun. Und in letzter Zeit beschleicht mich immer öfter die Angst, dass es mein Leben lang beim Träumen bleiben wird, bis ich schließlich als alte Frau strickend in meinem Schaukelstuhl auf der Veranda unseres Hauses sitze, wenn ich nicht gerade meinen Enkeln in der Buchhandlung helfe, die mich für leicht verrückt halten, weil ich mich weigere, die Abteilung mit den Reiseführern zu betreten. Oh ja, und ob ich das Bedürfnis habe, auszubrechen. » Doch«, sage ich. » Jeden Tag.«
» Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist, ständig an einem Ort zu leben.« Er stützt nachdenklich das Kinn in die Hand. » Meine Eltern sind oft mit uns umgezogen, und ich bin so viel unterwegs, dass ich wahrscheinlich jetzt schon mehr von der Welt gesehen habe, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben.« Ich fange an, mich allmählich tatsächlich wie die letzte Hinterwäldlerin zu fühlen, als Bennetts Blick plötzlich einen fast traurigen Ausdruck annimmt. » Dafür hast du etwas, das ich nie hatte«, sagt er ernst. » Wurzeln. Einen Ort, der ganz eng mit deiner Lebensgeschichte verwoben ist. Freunde, die du seit dem Kindergarten kennst und mit denen du aufgewachsen bist. Abgesehen von meinen Eltern und meiner Schwester habe ich manchmal das Gefühl, als wäre jeder Mensch, den ich kenne, irgendwie nur…«, er sucht nach den richtigen Worten, » …vorübergehend Teil meines Lebens.«
Jetzt bin ich diejenige, die mitleidig schaut. Ich kenne zwar nicht alle meine Freunde schon so lang wie Justin, aber bei keinem von ihnen habe ich das Gefühl, er wäre nur vorübergehend Teil meines Lebens.
» Du hast aber wahrscheinlich nicht vor, auch noch hier in Evanston zu studieren, oder?«, fragt Bennett lächelnd.
Nach dem, was er mir von sich erzählt hat, habe ich plötzlich solches Vertrauen zu ihm, dass ich rede, als hätte ich ein Wahrheitsserum gespritzt bekommen. » Oh Gott, nein! Das würde ich nur im allergrößten Notfall machen, wenn ich keinen Studienplatz an einer anderen Uni bekommen würde.« Ich erzähle ihm, dass ich mich für ein Sportstipendium bewerben will, und entscheide mich dann spontan dafür, ihm die ganze Wahrheit zu sagen. » Außerdem habe ich noch einen anderen Plan. Einen, von dem meine Eltern noch nichts wissen.«
Bennetts Augen beginnen zu leuchten. » Heißt das etwa, dass du mir ein Geheimnis anvertraust?«
» Ja. Aber im Gegensatz zu dir mache ich nicht nur Andeutungen, sondern erzähle dir alles.«
Bennett senkt lächelnd den Blick, bevor er mich wieder gespannt ansieht.
» Nach dem Schulabschluss würde ich am liebsten für ein Jahr eine Auszeit nehmen und
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