Zwischen uns die Zeit (German Edition)
geohrfeigt, und muss zugeben, dass mir das für einen Moment eine gewisse Genugtuung verschafft.
Er steht auf. » Entschuldige mich einen Moment. Ich bin gleich wieder da.« Er geht zur Toilette und lässt mich mit schlechtem Gewissen allein auf dem Sofa zurück.
» Es tut mir leid, Bennett«, entschuldige ich mich zerknirscht, sobald er zurückkommt. » Das sollte bloß ein Witz sein, aber er war ziemlich geschmacklos.«
Er bückt sich nach meinem Rucksack, der auf dem Boden steht. » Schon okay. Mach dir keine Gedanken.« Wir ziehen umständlich unsere Jacken an und schieben uns schweigend an den anderen Tischen vorbei zum Ausgang. Als wir draußen nebeneinander hergehen, klafft zwischen uns ein Abstand, der unüberwindlich scheint. Während der nächsten zehn Minuten wechseln wir kein Wort miteinander, und er ist mir auf einmal so fremd, dass ich anfange zu glauben, ich hätte mir die Vertrautheit, die vorhin noch zwischen uns geherrscht hat, nur eingebildet.
» Hier wohne ich«, sage ich, als wir vor unserer Einfahrt angekommen sind. Ich schäme mich ein bisschen dafür, dass unser Haus so alt und schäbig aussieht und an einigen Stellen die gelbe Farbe vom Putz abblättert. In der Küche brennt Licht, aber ich weiß, dass meine Eltern erst in ein paar Stunden nach Hause kommen werden. » Möchtest du noch…?«
» Nein danke«, fällt er mir beinahe schroff ins Wort und stellt meinen Rucksack vor mich in den Schnee. » Hör zu, Anna, du hattest recht mit dem, was du vorhin gesagt hast. Lass dich nicht mit mir ein. Ich bin kein guter Umgang für dich.« Seine Stimme klingt jetzt wieder sanfter.
» Sei doch bitte nicht mehr böse deswegen. Ich habe das wirklich nicht so gemeint«, entschuldige ich mich noch einmal.
Aber er schüttelt den Kopf und schiebt die Hände in die Manteltaschen. Als so schlimm habe ich meine Bemerkung eigentlich gar nicht empfunden, aber ihn hat sie anscheinend derart getroffen, dass er sich in einen komplett anderen Menschen verwandelt hat. Der eine Bennett war kurz davor gewesen, mich zu küssen, dieser hier kann es gar nicht erwarten, endlich von mir wegzukommen.
» Du weißt nichts über mich.«
Ich lächle und versuche die Atmosphäre etwas zu entkrampfen, um den alten Bennett wieder hervorzulocken. » Immerhin kenne ich ein paar Geheimnisse von dir, zumindest andeutungsweise.« Der Beinahe-Kuss von vorhin verleiht mir den Mut, auf ihn zuzutreten, die Hände auf das Revers seines schwarzen Mantels zu legen und zu ihm aufzusehen. » Das ist doch nicht nichts, oder?«
Bennett beugt sich zu mir herab, wie er es vorhin getan hat, als wir auf dem Sofa saßen, aber diesmal ist sein Gesicht angespannt. Er umschließt meine Handgelenke und schiebt mich von sich weg, ohne mich anzusehen.
Ich kann einfach nicht glauben, dass mein Kommentar ihn wirklich so getroffen hat. » Was hast du denn?«
Er tritt einen Schritt zurück. » Das wird nicht noch mal passieren, verstehst du, Anna? Aus uns beiden…«, er deutet erst auf sich und dann auf mich, » wird nichts.«
» Ich habe keine Ahnung, wovon du überhaupt redest! Was meinst du mit noch mal passieren?«
» Nichts. Mach dir keine Gedanken darüber. Tut mir leid.« Er verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mir fest in die Augen. » Hör zu, ich werde noch ungefähr zwei Wochen hier bleiben, aber nur weil ich gar keine andere Wahl habe. Danach werde ich von hier weggehen und du wirst mich nicht wiedersehen. Also vergiss mich.« Er dreht sich abrupt um und geht durch den knirschenden Schnee davon.
April
9
Fünfunddreißig Tage. Bennett ist jetzt schon seit fünfunddreißig Tagen in der Stadt, was nach meiner Definition eines kalendarischen Monats bedeutet, dass er vor vier oder fünf Tagen hätte abreisen müssen. Trotzdem sitzt er nach wie vor jeden Tag im Spanischkurs, wenn ich das Klassenzimmer betrete. Seit dem Abend im Coffeehouse vor drei Wochen haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Er sieht mich nicht einmal mehr an. Wenn unsere Blicke sich zufällig begegnen, lächelt er flüchtig und schaut dann hastig weg. Ich begreife nicht, wie er es schafft, meine Welt so komplett auf den Kopf zu stellen, einfach nur indem er alles so lässt, wie es war, bevor er kam.
» Alle mal herhören! Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen«, ruft Señor Argotta und breitet die Arme aus. Wir sehen ihn gespannt an, während er absichtlich Zeit verstreichen lässt, um uns auf die Folter zu spannen. » Einige von Ihnen wissen
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