Zwischen uns die Zeit (German Edition)
nicht bleiben. Eines Tages in naher Zukunft werden wir nicht mehr so zusammensitzen können, wie wir es jetzt tun, sondern durch eine Kluft von siebzehn Jahren voneinander getrennt sein, und wenn die Sehnsucht unerträglich zu werden droht, dann werden diese Postkarten womöglich das Einzige sein, womit wir uns trösten können. Aber gerade deshalb darf auf dieser Karte nicht irgendetwas stehen. Der Druck, etwas wirklich Bedeutungsvolles zu sagen, ist einen Moment lang so groß, dass mein Kopf vollkommen leer ist, doch schließlich greife ich nach dem Stift und beginne ebenfalls zu schreiben.
Lieber Bennett,
seit ich denken kann, habe ich davon geträumt, herauszufinden, was jenseits der einzigen Welt liegt, die ich je gekannt habe – jenseits meines kleinen, behüteten, normalen Lebens. Und jetzt sitze ich tatsächlich hier in einem idyllischen Fischerort, der so weit weg von meinem Zuhause – von allem » Normalen« – liegt, wie es überhaupt nur möglich ist. Aber so wunderbar, so verrückt und so faszinierend das alles auch ist, eines weiß ich ganz sicher: Das alles würde mir nichts bedeuten, wenn du nicht hier neben mir sitzen würdest. Du kannst mich überallhin mitnehmen oder nirgendwohin. Das ist mir gleich. Ich will nur da sein, wo du bist.
Ich zögere und werfe Bennett, der sich konzentriert über seine Karte beugt, einen forschenden Blick zu, bevor ich weiterschreibe. Vielleicht ist das Wort zu stark, aber ich spüre, wie es nach draußen drängt– dass es zu Papier gebracht werden will. Also schreibe ich:
In Liebe, Anna
Bevor mich der Mut verlassen kann, lege ich die Karte umgedreht vor ihn hin. Bennett klappt seine Karte auch mit dem Foto nach oben um und schiebt sie mir zu. Gleichzeitig greifen wir danach und lesen.
Liebe Anna,
es tut mir unendlich leid, dass ich dir nichts davon erzählt habe. Ich gebe dir mein Wort, dass das nie wieder vorkommen wird. Von jetzt an lasse ich dich ganz allein über deine Zukunft entscheiden.
Bennett
Ich lege die Karte wieder mit der Schrift nach unten auf den Tisch und gebe mir Mühe, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. » Vielen Dank.«
Bennett sieht mich verwirrt an. Offensichtlich spürt er, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist.
» Was hast du denn?«, fragt er.
» Nichts.«
» Warum habe ich dann das Gefühl, dass du enttäuscht bist?«
Ich greife achselzuckend nach meinem Biscotti. » Es ist nur… deine Karte ist ein bisschen… keine Ahnung. Vielleicht hatte ich etwas anderes erwartet.« Ich lächle. » Du musst dich nicht die ganze Zeit bei mir entschuldigen, Bennett.« Eigentlich hätte ich gedacht, er würde mich inzwischen besser kennen. Ich bin nicht nachtragend. Wenn ein Problem einmal geklärt ist, verschwende ich keine Gedanken mehr daran. » Ich meine… ist das wirklich das Wichtigste, was du mir sagen willst?«
» Nein«, antwortet er ruhig. » Ich weiß genau, was ich dir sagen will, aber dazu brauche ich keine Postkarte.«
Ich sehe ihn fragend an.
» Okay.« Er holt tief Luft, als würde er sich darauf vorbereiten, jetzt gleich die Rede seines Lebens zu halten. » Du… du bist einer der nettesten und klügsten Menschen, die ich je kennengelernt habe, Anna. Und ich finde es toll, dass du so abenteuerlustig bist und unbedingt die große weite Welt entdecken willst, aber ich muss zugeben, dass ich nicht so ganz kapiere, warum du deinem– wie du es nennst– kleinen, behüteten und normalen Leben so unbedingt entfliehen willst. Wenn ich mir deine Welt nämlich so anschaue, dann sehe ich keine Langeweile, sondern wirklich gute Freunde, die du schon von Kindheit an kennst, und Eltern, die alles tun würden, um dich glücklich zu machen. Ich sehe die Art von Geborgenheit, nach der ich mich immer gesehnt habe, weil ich sie so nie erlebt habe. Ich habe dir einen Zugang zu der Welt ermöglicht, die ich am besten kenne, aber durch dich habe ich Zugang zu einer Welt bekommen, die auf keiner Karte zu finden ist. Wenn wir beide zusammen sind, können wir das Leben haben, von dem wir träumen– du bekommst deine tollkühnen Abenteuer und ich etwas, das für dich vielleicht ›Nichts‹ ist, mir aber sehr viel bedeutet. Und vor allem bekommen wir einander.«
» Wow. Hier hast du noch eine Postkarte. Kannst du da bitte alles, was du gerade gesagt hast, draufschreiben?« Ich lächle, als wäre es ein Witz, aber eigentlich ist es keiner.
» Anna«, sagt Bennett ernst. » Ich glaube nicht, dass ich ohne dich in mein altes
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