Zwischen uns die Zeit (German Edition)
die Toilette zu dürfen. Einerseits bin ich immer noch wütend auf Bennett, andererseits hatte ich sofort wieder Schmetterlinge im Bauch, als ich ihn vorhin im Klassenraum sitzen sah. In der Hinsicht brauche ich mir also nichts vorzumachen– ich bin hoffnungslos verliebt in ihn. Und davon abgesehen bin ich viel zu fasziniert von seiner einzigartigen Gabe, selbst wenn ich gestern auf ziemlich schmerzhafte Weise erfahren habe, dass sie auch ihre Kehrseite hat. Aber ich will auch, dass er begreift, wie sehr er mich verletzt hat.
Ich sehe lange in den Spiegel, bis mein Gesicht anfängt zu verschwimmen und auszusehen wie das einer Fremden. Nachdem ich tief Luft geholt und Kraft gesammelt habe, kehre ich ins Klassenzimmer zurück.
Den Rest des Unterrichts grüble ich darüber nach, wie ich mich Bennett gegenüber nach der Stunde verhalten und was genau ich zu ihm sagen soll, doch kaum hat es gegongt, habe ich gerade genügend Zeit, meine Sachen zusammenzupacken, bevor er nach meiner Hand greift und mich den Flur entlang nach draußen auf den Hof zieht, auf dem jedoch wegen des sonnigen Wetters so viel los ist, dass es nirgends eine ruhige Ecke gibt.
Wortlos machen wir beide kehrt und Bennett führt mich entschlossen quer durch das Schulgebäude zu seinem Schließfach und öffnet es. Im Gegensatz zu meinem eigenen Fach, das mit ausgeschnittenen Fotos aus Zeitschriften und Stundenplänen dekoriert und mit Büchern und Süßigkeitenvorräten gefüllt ist, sieht seines aus wie sein Zimmer bei seiner Großmutter– anonym und wie etwas, das nur vorübergehend genutzt wird. Er quetscht unsere Rucksäcke hinein und schlägt die Tür wieder zu. » Los, lass uns abhauen!« Er greift nach meinen Händen, vergewissert sich mit einem Blick nach rechts und links, dass niemand in der Nähe ist, und ehe ich begreife, was er überhaupt vorhat, spüre ich das mir noch nicht ganz vertraute Ziehen im Magen. Ich presse die Augen zu, und als ich das nächste Mal Luft hole, weiß ich, dass wir nicht mehr in der Schule sind. Es duftet nach Salz und nach Meer, und ich höre das sanfte Rauschen von Wellen und Vogelgezwitscher.
Ich öffne die Augen.
Es ist noch früh am Morgen, aber die Sonne strahlt warm vom blauen Himmel auf den kleinen Hafen, in dem wir stehen. Staunend drehe ich mich um die eigene Achse und nehme die malerische Kulisse in mich auf. Alles hier scheint in Primärfarben auf die Leinwand gebracht worden zu sein. Ganz im Hintergrund die steil aufragenden Berge, an deren grüne Hänge sich dicht an dicht gelb, blau oder rot getünchte Häuschen drängen, und zur anderen Seite hin die offene blaue See. Ich sehe eine Kirche, auf deren Turm ein grün angelaufenes Kreuz in die Höhe ragt. Mit Ausnahme einiger Fischer, die mit ihrem Fang in den Hafen zurückgekehrt sind, scheinen wir die einzigen Menschen zu sein, die schon auf den Beinen sind.
Ein unglaubliches Glücksgefühl durchströmt mich, trotzdem stemme ich die Hände in die Hüften und sehe Bennett streng an. » Das ist unfair! Du denkst wohl, du brauchst mich nur an einen märchenhaft schönen Ort wie diesen bringen und alles ist sofort vergeben und vergessen, aber da täuschst du dich! Wo sind wir hier überhaupt?«
» An einem Ort, an dem wir unsere Ruhe haben.« Er greift nach meiner Hand und führt mich an den im Hafen vertäut liegenden farbenfroh lackierten Fischkuttern vorbei zu einer kleinen Treppe, die an einen Kieselstrand hinunterführt. Wir gehen vorsichtig über die glatten Steine auf ein paar Felsen zu, die wie eine von der Natur gestaltete Bank gruppiert sind. Nachdem wir uns gesetzt haben, grinst Bennett mich schief an. » Aber es ist schon schwierig, in einer so traumhaften Kulisse weiter böse auf mich zu sein, oder?«
Ich weiß nicht, ob ich ihn umarmen oder von der Felsbank stoßen soll. » Schwierig vielleicht, aber nicht unmöglich. So leicht kommst du mir nicht davon, und das nächste Mal würde ich gern gefragt werden, bevor du mich auf irgendeine Insel bringst.«
» Ich habe nur nach einem Ort gesucht, an dem wir in Ruhe über alles reden können. Außerdem sind wir hier nicht auf einer Insel, sondern auf dem Festland.« Er kickt mit der Spitze seines Schuhs ein Steinchen weg und sieht auf einmal enttäuscht aus. » Die Stadt heißt Vernazza.«
Ich schließe die Augen und lausche den Wellen, die über den Kies strömen und das Klopfen meines Herzens übertönen.
Vernazza. Italien.
» Es tut mir so leid, Anna«, höre ich Bennett leise
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