Zwischen zwei Nächten
anderen zu erzählen. Kannst du dir das vorstellen?“
Sie blickte Ann-Marie fragend an. Aber ihre Freundin zuckte nur gleichgültig mit den Schultern.
„Ist das heute nicht einerlei?“ antwortet Doktor Gerlich mit einer Gegenfrage und begibt sich sichtlich erleichtert zurück auf seinen Platz.
„Der Spaziergang scheint dir gut getan zu haben. Deine Wangen haben endlich ein bißchen Farbe bekommen“, meint Alfred, als sich Ann-Marie wieder zu ihm setzt.
Leise, nur für ihn hörbar, sagt sie: „Kann ich dich später noch allein sprechen?“
„Ja, natürlich.“
Väterlich legt er seinen Arm um ihre Schultern. Sie läßt ihn gewähren.
„Wann geht deine Maschine? Ich bringe dich zum Flughafen, wenn du willst.“
„Danke, das ist sehr lieb von dir, aber es ist nicht nötig. Ich fliege erst um sieben Uhr früh – über Frankfurt –, übrigens mit der gleichen Maschine, mit der auch Anna fliegen wollte.“
Mit dem abgenagten Knochen in den fettigen Fingern erinnert er sie frappant an einen dieser Wikinger in ihren Comicheften.
„Kein Problem, ich kann sowieso nicht schlafen. Wir betrinken uns nachher gemeinsam, okay?“, sagt er mit vollem Mund und schaut so traurig aus, daß sie ihm seinen Kummer beinahe abnimmt.
„Heute brauchen wir einander, nicht wahr, Ann-Marie?“
Angewidert, aber immer noch dieses künstliche Lächeln auf den Lippen, wendet sie sich ab und mustert die Runde, die sich schon ziemlich gelichtet hat.
„Ausgefressene Spießer!“, schimpft sie leise.
„Wahrscheinlich hast du recht, es sollte mir längst egal sein, was die anderen über mich denken. Das Schicksal meinte es übrigens gut mit mir und schickte Alfred eine gerechte Strafe. Mein lieber Ehemann altert nicht nur rasch, sondern leidet auch unter Haarausfall und Übergewicht. Er ist widerlich fett, völlig außer Form und bei Gott kein schöner Anblick mehr. Obwohl er drei Jahre jünger ist als ich, sieht er wesentlich älter aus, und das macht ihm ganz schön zu schaffen. Früher färbte er sich das schüttere, graue Haar schwarz, kurze Zeit trug er sogar ein Toupet, doch das spöttische Grinsen der Angestellten ließ ihn davon wieder Abstand nehmen. Aber seinen Bauch wird er wohl nie mehr loswerden. Zum Abnehmen fehlt es ihm an Disziplin. Er ist heute fast so breit wie groß. Du solltest ihn einmal in der Badehose sehen: Spindeldürre Beine, schlaffe Arme und um die Mitte ein riesiger Schwimmreifen. Er sieht wirklich komisch aus, eine richtige Schießbudenfigur. Inzwischen scheint er sich jedoch sowohl mit seiner Fettleibigkeit als auch mit seiner Glatze abgefunden zu haben. Wahrscheinlich ist es dieser Margot gelungen, ihm einzureden, daß beides eine anziehende Wirkung auf Frauen hat.“
Ann-Marie lachte, doch Anna blieb ernst und wartete, bis sich ihre Freundin wieder beruhigt hatte.
„Eine schleichende Depression ließ mich leider nicht lange triumphieren. Es ist nicht einfach, eines Tages feststellen zu müssen, daß alles sinnlos ist. Ich verfiel in eine totale Lethargie, zog mich von allen und allem zurück. Die geschäftlichen Angelegenheiten überließ ich Alfred, ich verlor jedes Interesse an der Arbeit. Allerdings weigerte ich mich standhaft, ihn zu meinem Teilhaber zu machen. So dumm war ich zum Glück doch nicht. Mein Vater hätte sich im Grab umgedreht, er hielt nie viel von Alfred. In diesem Fall war er mit dir ausnahmsweise einmal einer Meinung. Ihr beide habt dem armen Alfred nie eine Chance gegeben. Über kurz oder lang hätte Papa ihn bestimmt gefeuert. In seinen Augen war Alfred nichts anderes als ein Möchtegern-Playboy, ein schmieriger Parvenu. Den Job bekam er damals nur, weil gerade ein akuter Mangel an fertigen Architekten herrschte. Ich nahm Alfred, ebenso wie alle anderen Angestellten, Papa gegenüber immer in Schutz. Mein Vater war kein besonders netter Chef, mir wären jedoch viele schmerzhafte Erfahrungen erspart geblieben, wenn ich auf seine Menschenkenntnis vertraut hätte. Aber das gehört alles längst der Vergangenheit an. Ich kann dir nicht erklären, warum es auf einmal vorbei war, ich weiß es nicht. Eines Tages erkannte ich, daß meine Existenz bloß noch eine reine Formalität war. Jeder nahm sich das Recht heraus, über mich zu bestimmen. Ich begriff plötzlich, daß ich immer nur das gewesen bin, was andere aus mir gemacht haben, und irgendwann sagte ich mir: Das kann doch nicht alles gewesen sein. – Mein Entschluß steht fest, ich werde die Scheidung einreichen und
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