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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baum Vicki
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nicht zu unterscheiden, ob dies drei Personen waren oder eine einzige – Leore hängte ab, als es zu traurig und verwickelt wurde. Sie wollte keine weiteren Ausbrüche von verunglückten Menschen im Winkel hören. ›Bißchen schlafen‹, dachte sie ruhebedürftig.
    Aber Schlafen ging nicht. Schlafen hieß stilliegen, und liegen hieß denken. Das Kissen wurde heiß, ein paar Fliegen kamen mit irrsinniger Hartnäckigkeit und Eile in Kreisen immer von der Lampe zum Bett, vom Bett zur Lampe, die an Bronzeketten hing und oberflächlich mit elektrischen Drähten umwunden war. Halb zwei Uhr, dreiviertel zwei Uhr, zwei Uhr. Fünf Minuten nach zwei Uhr. Sieben Minuten nach zwei Uhr. Dann blieb die Zeit vollends stecken, unbeweglich. Leore rechnete nach, seit wieviel Stunden sie Karbon nicht gesehen hatte. Zuletzt vor dem Unglück war er gerade dabei gewesen, den Weltreisenden zu markieren und irgendeine seiner afrikanischen Geschichten zu erzählen. Dann war sie noch taumelig mit dem Kopf auf seinem Schenkel gelegen und glaubte zu verbluten. Aber das hing außerhalb aller Zeit im Irgendwo. Hundertundvierzehn Stunden ohne Peter Karbon. Hundertundvierzehn Stunden Angst, Schmerzen, Qual, Sorge, Verzweiflung. Sie war durch allerhand Gegenden der Hölle gekommen, die sie vorher nicht gekannt hatte, in diesen hundertundvierzehn Stunden.
    Leore Lania war vierundzwanzig Jahre. Sie lächelte uralt zur Decke hinauf. ›Wenn man sie braucht, sind sie nie da‹, dachte sie. Wenn es darauf ankommt, ist man immer allein. Sie – das waren die Männer, mit denen sie zu tun hatte. Hundertvierzehn Stunden. Wenn Peter um vier Uhr kam, dann waren es noch zwei. Wenn er um fünf Uhr kam – aber es war auch möglich, daß er erst um sechs kam. Leore schaute auf die Uhr. Zwei Uhr neun Minuten. Die Fliegen. Der Spiegel. Die Wunde …
    Peter Karbon kam zwanzig Minuten vor sechs, und zwar hatte ihn auf Veranlassung von Herrn Bollmann, dem Wirt des ›Weißen Schwanen‹, der Gutsbesitzer gleich in seiner Kalesche mitgenommen. Herr von Raitzold war unterwegs so übermäßig gesprächig und aufgekratzt gewesen, wie ernsthafte Leute seines Schlages es nur in der Verzweiflung sind, aber als er die Klinke seines Zimmers in der Hand fühlte, klappte er plötzlich ab und verschwand mit ein paar gemurmelten Worten, es Peter Karbon selber überlassend, ob er sich die Treppen hinauf zum Fremdenzimmer fand.
    Leore hatte den langen Menschen ankommen sehen, sie stand schon lange am Fenster, und ihr Herz ging los mit dem dumpfen Schlag einer großen Rakete; sie spürte es geradezu in leuchtenden und zischenden Kaskaden aufstieben in sich und über sich hinaus, aber als Karbon eintrat, machte sie einen übermäßig geordneten und vernünftigen Eindruck. Sie war am Fenster stehengeblieben und hatte mit vielem Bewußtsein die heile Seite ihres Gesichts im Profil zur Tür gewendet, wie für eine Filmaufnahme. Im gleichen Augenblick jedoch, als er die Tür öffnete, änderte sie alle Absichten und drehte ihm schnell das ganze Gesicht entgegen, mit den Augen dunkler und erregter fragend, als sie selber es wußte, bis sie ihn ganz zu sich hergezogen hatte und ihre Hand in seiner unterbrachte wie in einem großen, durchwärmten und vertrauten Bett. Die Lania hatte merkwürdige Hände, klein und außerordentlich feinknochig und beweglich, aber mit so viel Kraft, daß sie oft auf den verwunderten Blick von Menschen stieß, denen sie die Hand gab. Auch Karbon spürte in diesem Moment mit einer vertrauten Überraschung diese Hand wieder, deren besonderes Wesen ihm sonderbarerweise in den letzten Tagen entfallen war. Er hielt sie fest, nur ganz kurz und wie prüfend, und ließ sie dann los.
    »Tag, Pitt«, sagte Leore.
    »Tag, Leore«, sagte Karbon. Er sagte nicht Pittjewitt; er sagte Leore, und sie entfernte sich einen Schritt von ihm, mit dem Rücken an das Fensterkreuz gestützt.
    »Nett, daß du gekommen bist, Peter.«
    »Der Doktor hat mir erst heute erlaubt, auszugehen. Sonst –«
    »Ich hätte dich auch früher gar nicht empfangen. Wie geht's dir? Noch etwas kaputt an dir?«
    »Danke. Sehr all right. Und du?«
    »O – auch.«
    Peter Karbon war diesmal nicht in seinem Autodreß, sondern trug einen weichen, grauen Flanellanzug typisch englischer Provenienz. Leore atmete vorsichtig den parfümierten Geruch englischer Zigaretten ein, den ihre Hand von seiner Hand empfangen hatte. Sie litt heftig, weil auch Peters Blick nicht den Mut hatte, fest auf ihrem Gesicht

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