Zwischenfall in Lohwinckel
spazierenging. Und außerdem war es das Selbstverständlichste, so spürte es Elisabeth, zugleich mit dem drängenden und treibenden Gefühl des Unrechts und der Sünde.
Eine der Buchweizenblüten steckte noch immer in Karbons Knopfloch und duftete zart nach Staub und Feldrain. »Jetzt fängt es endlich an«, sagte er und drängte seine Hand heftig unter ihre Handfläche, im gleichen Augenblick, da der Saal sich verfinsterte.
Der Film, der nun begann, hieß, wie man schon aus den Plakaten erfahren hatte, ›Abenteuer in Monte Carlo‹, und er war, wie alle Filme, die nach Lohwinckel kamen, nicht mehr ganz neu und außerdem ein wenig streifig und abgenutzt. Die Côte d'Azur, die man zunächst zu sehen bekam, machte deshalb einen etwas verregneten Eindruck, obwohl Sonnenschein und schwarzer Schatten sehr deutlich zu sehen waren. Es wurde die Riviera gezeigt, ein paar Stimmungsbilder, die Küste bei Monte Carlo, das Kasino, ein Spielsaal, eine Jacht im Hafen von Villefranche, die Autokolonnen auf der oberen Corniche, die Luxusschaufenster in Nizza: alles Dinge, die weitab von den Lohwinckler Lebenskreisen lagen und gerade deshalb mit genußsüchtigen Augen verschlungen wurden – auch von den Arbeitern, die in Tarifstreitigkeiten lagen. Frau Profet, die Vielgereiste, rief mit lautem, heiserem Flüstern die Namen von Orten, Hotels und Straßen, die sie erkannte, in Franz Alberts Ohr, der seinerseits schon dreimal an der Riviera gewesen war, aber alles wieder vergessen hatte.
Man konnte ihn rund um die Welt schicken, er merkte nicht mehr davon als ein Postpaket.
»Ich habe nämlich mal in Spanien Kämpfe gehabt!« berichtete er unbeholfen. »Da haben sie mich nicht schlecht verschoben, aua, Junge! Da hatte ich Simotzky noch nicht.«
An der Seitenwand, im dicksten Gedränge der Arbeiter stand Herr Markus, er kannte die Riviera gleichfalls genau, wenn auch nur aus Büchern, Beschreibungen, Romanen, Fotografien. Das Fräulein aus dem Frisörladen hatte sich zu ihm gefunden, es war eine etwas kompromittierende und unbehagliche Nachbarschaft, aber immerhin besser als gar nichts.
Herr Markus hatte sich am Vormittag mit Heftigkeit und Tiefe in Leore Lania verliebt – »An Ihnen ist ein Schriftsteller verloren gegangen«, hatte sie gesagt – und dieses Gefühl verstärkte sich noch und bekam etwas Wühlendes und Bohrendes, als ihr Bild auf der Leinwand zu erscheinen begann. Außerdem waren da noch seine zarten und leisen, unterirdischen Gefühle für Frau Doktor Persenthein. Da sie in der dritten Reihe saß, erhielt ihr Gesicht den vollen Widerschein der beleuchteten Projektionsfläche, und dem sensiblen Markus entging keineswegs der neue und geöffnete Ausdruck in diesem Gesicht. Für ihn aber blieb zuletzt nur das Fräulein aus dem Frisörladen übrig, sie war es, die er am Ende des Abends nach Hause bringen würde, wenig geachtet, vulgär und allzu leicht zugänglich, wie sie war. ›Faute de mieux –‹, dachte Herr Markus seufzend. ›Mein ganzes Leben ist so ein Faute-de-mieux-Leben‹, dachte er ferner; das schien ihm so gut formuliert, daß es ihn beinahe tröstete.
Mit Leore Lania, der Heldin des Films, die im Titelverzeichnis ›Lore‹ genannt wurde, hatte es indessen folgende Bewandtnis genommen: Sie war auf dem Bahnhof in Monte Carlo angekommen, lächerlich klein und zart und hilflos, und hatte Papiere aus ihrer Tasche gezogen, denen man entnehmen konnte, daß sie eine Stellung als deutsche Erzieherin anzutreten wünschte. Obwohl sie hundearm war, trug sie ein Jackenkleid aus einem erstklassigen Atelier, wie das im Film Sitte ist, und sie führte sich sogleich mit einem außerordentlich niedlichen Zug ein. Sie gab nämlich vor dem Bahnhofsbüfett deutlich zu erkennen, daß sie hungrig sei, kaufte aber dann doch nicht das kalte Kotelett, sondern einen Strauß Parmaveilchen, und zwar für ihre allerletzten Sous. Sodann wurde sie von einer dicken, geschmückten Madame in Empfang genommen, und das heitere Quidproquo nahm seinen Lauf. Leore Lania nämlich, die schlichte kleine, arme deutsche Erzieherin Lore, war einer Verwechslung anheimgefallen und hatte sich in die Hände einer Dame begeben, die ein Tanzlokal mondäner Art betrieb, wo Lore als Tanzstar auftreten und Stimmung in den Betrieb bringen mußte. Die Lohwinckler begriffen das nicht alle sofort; die hellen Gymnasiasten auf der Galerie zuerst, nach einer Weile die Arbeiter und ganz zuletzt auch die besseren Kreise, und als erst alle es erfaßt
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