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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baum Vicki
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zu öffnen, und die Methode, nach der das zu geschehen hatte.
    In dem Telegramm stand: ›Streik abgelehnt. Gütliche Verhandlungen empfohlen. Unterstützung des Verbandes zugesichert.‹
    »Scheiße!« sagte Birkner zunächst ganz laut, sodaß Putex, der daneben stand und mit Herrn Oertchen über die Entfernung der Gymnasiasten verhandelte, zusammenfuhr. Die Nachricht, daß die entscheidende Antwort aus Berlin eingelaufen sei, pflanzte sich indessen in Wellen durch den Saal fort, und so kam es, daß die Arbeiter aus den vorderen Reihen nach hinten und zu ihrem Betriebsratsobmann drängten, während Herr Roggenzahn mit Musik das Zeichen zum Fortgang der Vorstellung gab und die Bürger sich vom Bierschank weg nach vorn zu ihren Plätzen durchzuarbeiten suchten. Es ging so hart bei diesem Gegeneinander zu, daß es, von der Galerie aus besehen, fast einer Keilerei glich. Der Bürgermeister jedenfalls hatte diesen Eindruck. Er erhob sich und verließ auf den Zehenspitzen den Saal. Herr von Raitzold warf ihm einen fragenden Blick zu. »Ich glaube, es setzt noch etwas. Ich bringe mal die Polizeileute an die Tür für alle Fälle«, murmelte der Bürgermeister. »Soll ich indessen die Damen hinausbegleiten?« fragte Raitzold ritterlich. »Nein. Das gibt zu viel Aufsehen«, sagte der Bürgermeister nach einem Blick über die Brüstung und ging rasch und unauffällig fort. Auch Herrn Profet unten waren ähnliche Gedanken gekommen, denn er kannte seine Arbeiter, und er sah sie mit fieberhaften und verzerrten Gesichtern die Leute vom Betriebsrat umdrängen. »Wollen mal heimgehen«, sagte er und schob seine Frau aus der Reihe hinaus. »Vielleicht schafft Herr Albert bißchen Platz.«
    Nichts lag dem Boxer ferner als Gewalt. Er schlug nur, wenn er dafür bezahlt wurde. Er hatte die absolute Gutmütigkeit und Schüchternheit aller wirklichen Athleten. Undenkbar für ihn, gegen Leute ohne Boxhandschuhe, gegen Leute, die nicht gegen ihn kämpften, loszugehen. Still und sanft hielt er sich hinter Profets Rücken, und so schoben sie sich an den Knien ihrer Nachbarn vorbei bis zu den verstopften und verstellten Seitengängen. »Hier kann keiner 'naus«, sagte ein junger Arbeiter einfach und drückte sie mit einer Schulter wieder zurück. Profet verstand die Drohung in der kleinen Bewegung und schob mit Gast und Gattin stumm wieder nach hinten auf die verlassenen Plätze.
    Im Saal wurde es dunkel, aber nicht ruhig. Birkner war mit einer Anzahl von Arbeitern hinten beim Schanktisch geblieben, und dort stritten sie sich jetzt herum, hart und fanatisch in zwei Gruppen geteilt und um so lauter redend, als es ihnen an der Fähigkeit gebrach, ihre Meinung in richtigen Worten auszudrücken. Herr Roggenzahn, der mit schwimmenden Augen in den Saal stierte, wurde plötzlich von einem infernalischen Einfall überkommen. Herr Roggenzahn war einmal ein guter Musiker gewesen, er hatte eine Vergangenheit als Kapellmeister einer kleinen Hofbühne hinter sich. Die Bitterkeit der verkommenden Existenz schoß mit einemmal in ihm hoch. Er hatte sich eine Weile mit dem ›Wiegenlied‹ von Brahms abgegeben, gleichsam zur Beschwichtigung der enttäuschten Streikhetzer. Plötzlich wurde es ihm zu dumm, und er sprang in ein scharf rhythmisiertes und ungeheuer aufreizendes Musikstück hinüber. Es war der Marsch aus der Pathetischen Sinfonie von Tschaikowsky, die musikalische Bürgermeisterstochter erkannte ihn sogleich, auch Markus, der das Stück vor kurzem im Radio gehört hatte. Es hämmerte auf eine wahrhaft verteufelte Weise Sturm und Aufruhr in den Saal und paßte nicht im geringsten zu den Bildern, die gleichzeitig auf der Leinwand ihr zweidimensionales Leben führten.
    Wahrscheinlich war Frau Persenthein zu diesem Zeitpunkt der einzige Mensch im Saal, der noch mit voller, ja mit immer wachsender und glühender Anteilnahme den Film verfolgte, die Herzklopfen bekam, als sie sah, wie die Lania eidechsenglatt und voll Verlockung dem dicken Herrn etwas vortanzte. Dieser Tanz war Kern- und Mittelstück des Films, und der Regisseur zeigte nicht nur den Tanz, sondern auch seine Wirkung. Gesichter von Männern, aufgerissen und nackt in Begierde, Hände, die sich unter Tischen umklammerten – fast so, wie Elisabeths eigene Hand in diesem Augenblick die von Peter Karbon umklammerte –, einen jungen Kellner, der starr mit dem erhobenen Tablett stehenblieb und die Tänzerin anstarrte; und in einer Großaufnahme die Augen des dicken Herrn, die sich hin und her

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