Zwischenstation Gegenwart (German Edition)
ihm kam, so hatte er sich gewaltig geschnitten. Hatte ich eventuell vorgehabt, an diesem Tag das Gespräch mit ihm zu suchen, so konnte er sich das nach dieser Aktion getrost abschminken. Ich wollte eine Entschuldigung und keine Eifersucht.
Wenn es darum ging nachzugeben, waren wir beide extrem stur und dickköpfig. Keiner wagte es in den nächsten Tagen , auf den anderen zuzugehen. Wir liefen uns in der Schule ständig über den Weg und warfen uns kalte Blicke zu, aber den ersten Schritt traute sich keiner von uns zu machen. Dabei vermisste ich ihn schrecklich, ich wollte ihn um mich wissen, mit ihm zusammen sein, aber solange er nicht einsah, dass es mein Leben war, über das er bestimmen wollte, sah ich uns nicht so schnell wieder vereint.
Glücklicherweise wurde ich von allzu viel Grübelei abgehalten, denn das neue Halbjahr hatte begonnen und ich hatte mit einem Mal Unmengen von Arbeiten zu korrigieren. Während ich eines Nachmittags zu Hause an meinem Schreibtisch saß, fragte ich mich ernsthaft, wie ich das alles vor meiner Amnesie geschafft hatte. In einem unserer vielen Gespräche hatte Phil mir erzählt, dass ich vor nicht allzu langer Zeit nicht nur meinen Job als Lehrerin gemacht hatte, sondern mich über Wochen hinweg von ihm zur Zeitreisenden hatte ausbilden lassen. Kein Wunder, dass meine Freunde und Familie mir nichts hatten erzählen können, als ich sie nach diesem Zeitraum gefragt hatte. Ich hatte praktisch nie Zeit gehabt, und in meiner Naivität hatte ich versucht, eine Beziehung zu einem Mann aufzubauen. Aber nach meiner neuerlichen Begegnung mit Sven war mir klar, dass wir unter keinen Umständen glücklich geworden wären, selbst dann nicht, wenn ich nicht den Weg gewählt hätte, den ich gegangen war.
Ohne dass ich es gewollt hatte, waren meine Gedanken doch wieder zu Phil und dem Thema Zeitreisen zurückgekehrt. Der Wunsch, es ein weiteres Mal mit dem Reisen in die Vergangenheit zu versuchen, war nicht nur rein egoistischer Natur. Ich wollte Phil von seinem Dasein als Lehrer erlösen. Er war kein Lehrer und nur widerwillig gab er vor, einer zu sein. Wie ich erfahren hatte, war er von klein auf Zeitreisender gewesen und hatte eigentlich nie etwas anderes gemacht. Selbst während seines Studiums war er auf alle möglichen Reisen gegangen. Nur mir zuliebe war er in den letzten Monaten an der Schule geblieben. Es war seine einzige Chance gewesen, mich täglich zu sehen, ohne dass ich ihn als Stalker anzeigen konnte, wie er mir verraten hatte. Wenn man alle Fakten bedachte, musste ich mir widerwillig eingestehen, dass er seinen Job nicht mal schlecht machte.
Auch wenn er manchmal schummelte, wenn es um die Korrekturen seiner Arbeiten ging, grummelte ich vor mich hin, während ich mir seufzend eine weitere Englischarbeit vornahm. Es gab einen Angestellten im Büro der Zeitreisenden, der seine Arbeiten korrigierte, das war Phils Bedingung gewesen , als er sich bereit erklärt hatte, den Auftrag an der Schule anzunehmen. Seinen Unterricht bereitete er in der Regel selbst vor, und wenn ihn nicht plötzlich ein Auftrag davon abhielt, konnte er mit ordentlichen Materialien punkten. Ich war immer wieder aufs Neue überrascht, wie gut er seinen Unterricht meisterte, keinem Außenstehenden fiel jemals auf, dass er das alles nur vorgab. Im Nachhinein war ich dankbar, dass ich nicht Ärztin war. Es war eine Sache für ihn einen Lehrer zu spielen, aber einen Arzt? Undenkbar.
Das Klingeln meines Telefons riss mich aus meinen Überlegungen, gedankenverloren hob ich ab.
»Hallo?« Ich meldete mich nie mit meinem Namen, am Ende hatte ich einen dieser Telefonverkäufer am Apparat, und wenn man nicht aufpasste, hatte man ohne es zu wollen ein Jahresabo für die Zeitung ›Fischers Fritze‹ abgeschlossen.
»He y Süße, was machst du zu Hause? Es ist Freitagabend, ich habe gerade mein gesamtes Gehalt für neue Kleider ausgegeben. Und jetzt würde ich gerne etwas essen gehen und mag nicht alleine sein. Kommst du zum Brauhaus?«, ertönte Maries fröhliche Stimme durch den Hörer. Der Klang ihrer Stimme machte mir deutlich, wie sehr ich sie vermisste. Wir hatten uns seit meiner Abfahrt nach London nicht mehr gesehen und bis auf ein paar vereinzelte SMS hatten wir nicht viel voneinander gehört. Mit einem kurzen Blick auf den kleiner gewordenen Stapel der Englischarbeiten beschloss ich spontan, dass ich fleißig genug gewesen war und ich dringend jemanden zum Reden brauchte. Obwohl ich nicht wusste,
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