Zwischenstation Gegenwart (German Edition)
Chance einzuräumen. Viel zu lange hatte ich meinem Glück selbst im Weg gestanden.
Trotzdem es Sonntag war, gönnten wir den Schülern es nicht, auszuschlafen, sondern fuhren gleich nach dem Frühstück zu unserem nächsten Ausflugsziel. Auf dem Plan stand Hampton Court, der Palast von Heinrich dem Achten. Man merkte den Schülern an, dass sie geschlaucht waren, die kurzen Nächte und die vielen Besichtigungen waren ihnen deutlich anzusehen. Auch ich merkte, wie dankbar ich dafür war, dass wir am nächsten Tag heimfliegen würden. Zumal ich es nach nur zwei Nächten satthatte, mich heimlich mit Phil zu treffen. Ich wollte nicht mehr im Schutze der Dunkelheit zurück in mein Zimmer huschen. Ich war eine erwachsene Frau und kein Teenager mehr!
In Hampton Court erlebten die Schüler eine Überraschung, sie waren davon ausgegangen, dass sie sich erneut ein altes Gemäuer ansehen mussten, gefüllt mit langweiligen Ausstellungen, die nur Lehrer interessieren konnten. Was nur zum Teil richtig war, denn was sie nicht wussten, war, dass an diesem Tag ein Tudor-Festival stattfand und das ganze Schloss als Kulisse dafür diente. Viele Schauspieler in historischen Kostümen liefen über das Gelände und mit viel Phantasie konnte man sich beinahe in die Zeit der Tudors zurückversetzt fühlen. Bevor wir uns in das wilde Getümmel stürzen konnten, nahmen wir an der obligatorischen Führung durch das Schloss teil. Am Ende der Führung bot man uns an, an einem Workshop über typische Freizeitbeschäftigungen der Tudorzeit teilzunehmen. Kurz entschlossen stimmten Phil und ich zu. Wir hatten schon während unserer Projektwoche festgestellt, dass gelebte Geschichte für die Schüler wesentlich interessanter war, als immer nur trockene Fakten mitgeteilt zu bekommen.
Um die Zeit bis dahin zu füllen, schlenderten wir über den Markt und schauten uns die einzelnen Stände an. An einem der Stände blieben wir stehen und eine der Schülerinnen rief entsetzt aus:
»Schaut mal, die verkaufen Keuschheitsgürtel!« Alle blieben stehen und betrachteten das besagte Objekt, ein Blick von mir bestätigte mich in der Annahme, dass die Behauptung der Schülerin eindeutig falsch war.
»Du irrst dich, Jasmin, das ist ein ganz normaler Gürtel«, entgegnete ich. Skeptisch sah sie zwischen mir und dem Gürtel vor uns hin und her.
»Und was macht man damit? Die Kleider aus der Zeit sehen doch nicht so aus, als bräuchte man einen Gürtel.« Mit der Hand wies sie auf eine Kleiderstange, auf der einige nachempfundene Kostüme zum Kauf angeboten wurden. Die taillierten Kleider schienen tatsächlich ohne dieses Hilfsmittel auszukommen.
»Die Frau des Hauses trug ihn , um dort wichtige Sachen zu befestigen, wie Schlüssel, Messer und was man sonst noch im alltäglichen Leben brauchte. Es war im Grunde genommen ein Vorläufer der Handtasche«, erklärte ich ihr. Die Erklärung leuchtete allen ein und wir gingen weiter zu den nächsten Ständen.
»Was ist los?«, fragte ich Phil, der mich die ganze Zeit aufmerksam beobachtet hatte.
»Unbewusst scheinst du dich an vieles zu erinnern. Du wusstest nicht, was man mit den Gürteln macht, bis du dieses Kostüm an Halloween getragen hast«, antwortete er mir.
»Nur wäre ich froh, wenn es nicht immer nur solche Häppchen wären, sondern wenn meine gesamte Erinnerung wiederkäme«, erwiderte ich seufzend.
»Ich weiß. Glaub mir, ich wäre genauso froh darüber.« Er sagte dies in einem merkwürdigen Tonfall, der mich fragen ließ, was es war, das er mir immer noch nicht erzählen konnte. Etwas, das immer noch an mir nagte. Ich hatte alle Bedenken hinter mir gelassen und mich auf ihn eingelassen, was ich auch nicht bereute. Und doch rückte er noch nicht mit der Wahrheit heraus. Warum hatten wir uns gestritten? Was war vorgefallen? Er wollte, dass ich alleine darauf kam, aber wie sollte das gehen, wenn weiterhin ein unbeschriebenes Blatt einen Teil meines Kopfs einnahm?
Der Markt war nicht groß und es dauerte nicht lange, bis wir alles besichtigt hatten , und noch immer mussten wir warten, bis unsere Vorführung begann. An einem der Stände wurden Glühwein und andere warme Getränke angeboten. Für Glühwein war es meiner Meinung nach zu früh, aber der Vorschlag, heißen, gewürzten Apfelsaft zu trinken, stieß bei allen auf Zustimmung. Wir besorgten die Getränke und reichten sie an die Schüler weiter. Alleine das dampfende Getränk in der Hand zu halten und den würzigen Duft einzuatmen,
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