Zwischenwelten (German Edition)
findet es beinahe schade, dass sie sich so beeilen müssen, er hätte sich gerne noch eine Weile umgesehen. Es ist ganz anders als in Sandbach, hier blüht und gedeiht die Fischerei, die Boote sind schön und gut instand gehalten, und der salzige Fischgeruch ist frisch und scharf. Boote legen gerade ab oder sind kurz davor, in See zu stechen. Die meisten sind Fischerboote, doch ein paar haben auch andere Fracht: vor allem Holz, aber auch Touristen.
Im Hafen gibt es bedeutend weniger Touristen als in Terrasse, und Ayse fühlt sich beobachtet. Sie trabt vor den anderen her, an den auf dem Wasser schaukelnden Lagerhäusern entlang und über breite Stege. »Wo ist es?«, ruft sie Micky über die Schulter zu.
Ohne auf eine Antwort zu warten, biegt sie um eine Ecke, und es hätte wenig gefehlt, und sie wäre geradewegs in die Arme der Wächterinnen gelaufen. Einen winzigen Augenblick lang bleibt sie stocksteif stehen, und dann – als sie sieht, dass man sie noch nicht bemerkt hat – springt sie schnell wieder zurück. Sie dreht sich zu den anderen um. »Da sind sie!« Sie schaut Micky ängstlich an. »Die Wächterinnen, Kivan und die beiden anderen Jungs, die laufen hier rum! Die müssen bemerkt haben, dass wir auf dem Weg hierher waren. Es sieht so aus, als würden sie nach uns fragen, ihr wisst schon …«
Tio nickt. »So was wie: Haben Sie vielleicht einen Jungen und zwei Mädchen gesehen? Keine Runji, salzländische Kleidung, blablabla?«
Micky späht über die Anleger, an denen die Boot festgemacht sind. »Da lang.« Sie zeigt eine Richtung und scheucht Ayse und Tio aus ihrer Starre auf. Die drei verschwinden hinter einer langen Reihe Holzkisten. Kisten mit Fisch und leere Kisten. Sie stehen in ordentlichen Stapeln und geraden Reihen entlang dem Ufer. »Wenn wir uns hier verstecken, können wir sehen, wenn sie kommen.«
Gebückt schleichen sie von Kiste zu Kiste, von Stapel zu Stapel.
Jemand ruft ihnen etwas hinterher.
Tio schaut erschrocken auf und stößt sich den Kopf an der vorstehenden Kante einer Kiste, die nachlässig auf die anderen gesetzt worden ist. Die oberste Kiste wackelt. Tio hebt beide Hände, stemmt sie gegen die Unterkante und versucht, den schweren viereckigen Kasten festzuhalten. Es klappt auch, aber jetzt traut Tio sich nicht mehr, sich zu bewegen.
Der Fischer, der ihnen etwas zugerufen hat, schüttelt den Kopf und geht wieder an die Arbeit. Wahrscheinlich denkt er, dass sie hier nur Verstecken spielen.
Ayse und Micky winken Tio ärgerlich: Komm, los, beeil dich.
Vorsichtig schleicht er weiter, tief gebückt, die Nase fast auf dem Boden. »Wir sind da!«, hört er Micky flüstern, als er fast bei ihr ist. »Der hohe Anleger, das ist es.«
Von seinem Boot aus betrachtet der Fischer das eigenartige Schauspiel noch eine Weile. Es kommen nur selten Kinder her. Dann wird seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt: Runjiwächterinnen zwischen den Lagerhäusern. Was machen die hier? Sie sehen aus, als würden sie etwas suchen. Jemanden suchen.
Er wirft noch einen Blick auf den Jungen, der auf Händen und Knien an den Kisten vorbeikriecht. Er ist eindeutig ein Salzländer. Wer weiß, vielleicht hat er Fische gestohlen! Vielen Leuten in Sandbach geht es nicht gut, sie werden den Hunger leid sein. Aber Hunger oder nicht, er lässt sich seine Fische nicht stehlen. Wer nicht bezahlen kann, soll auch hübsch die Finger davon lassen. Der Mann beugt sich über die Reling seines Bootes und kneift die Augen zusammen. »Aie … aie!«
Tio hört die ungeduldige Stimme und sieht sich um. Der Fischer ruft ihm auf Runji etwas zu. Aus den Augenwinkeln sieht Tio Micky und Ayse schon dicht am Ufer. Er springt auf. Nun kann ihn jeder sehen, aber so ist er einfach schneller als auf allen vieren. Bei den Lagerhäusern ist eine weitere Stimme zu hören, dann eine dritte. Tio beschließt, nicht darauf zu reagieren. Er sieht nur noch die Rücken der beiden Mädchen, die vor ihm losrennen, und sprintet hinterher.
Die hohen hölzernen Pfosten des Anlegers stehen im Wasser. An der Seite hängen Dutzende weiß-orange Bojen und Netze aus dickem Tauwerk. Am Ende des Anlegers gibt es zwei gegenüberliegende Holztreppen, die bis knapp über die Wasseroberfläche führen. Die Rücken von Ayse und Micky verschwinden ins Nichts. Dicht hinter sich hört Tio Stimmen, oder bildet er sich das nur ein? Doch er schaut sich nicht mehr um, sondern hechtet nach vorn, die linke Treppe runter, unten auf die rechte Treppe
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