Zwischenwelten (German Edition)
übertreten, wie er es bei Micky und Ayse gesehen hat.
Und dann ist es plötzlich angenehm still in seinen Ohren.
Bis Ayse zu ihm sagt: »Wegen dir krieg ich noch mal einen Herzkasper, du trübe Tasse!«
Selten hat es Tio so herrlich gefunden, wieder in die unbewohnte Welt zurückzukommen. Keine Verfolger, kein Kivan und Konsorten, vor denen man Angst haben musste. Und Ayse ist zum Glück wieder bei ihm, auch wenn sie auffallend still ist. Was ist mit ihr? »Mensch, hab ich einen Hunger«, plappert er aufgedreht. »Ich futtere gleich den ganzen Supermarkt leer.«
Aber Ayse ist in Gedanken irgendwo anders.
Tio stupst Micky an. »Ein Glück, dass du weißt, dass die Treppen überall gleich funktionieren. Eigentlich schade, dass in Terrasse nirgends eine Treppe ist.«
»Vielleicht gibt es irgendwo eine, nur hab ich sie noch nicht entdeckt.« Micky zeigt mit dem Daumen über die Schulter. »Aber wenn ihr jemals nach Belmonde kommt, da gibt es auch eine. Ihr müsst wirklich mal hin und es euch angucken. Es ist jetzt nicht mehr so schön wie früher, aber sehr angenehm.«
»Im Moment bin ich erst mal vorsichtig«, sagt Ayse leise. Sie blickt schuldbewusst noch einmal zurück. »Auch wenn ich wollte, dass es anders wäre …«
Schweigend gehen sie weiter.
Tio klopft Ayse auf die Schulter. »Hör mal, du kannst Hala doch auf einem anderen Level wieder besuchen«, sagt er tröstend.
»Das ist doch überhaupt nicht dasselbe«, blafft Ayse. Sie weiß, dass es nicht richtig ist, Tio so anzufahren, aber giftig zu sein ist weniger schlimm als Kummer haben.
Zum Glück kapiert Tio das. Er hat sich selbst ja auch einmal nur mit Mühe von dem freundlichen Runjimädchen verabschieden können. Auch wenn sie ihr noch so oft wieder begegnen, immer wird die Bekanntschaft für Hala neu sein, und von einer längeren, schon bestehenden Freundschaft kann keine Rede sein. »Ja, das ist so ähnlich, wie eine demente Großmutter zu besuchen, die weiß auch jedes Mal nicht, wer du bist.«
Eine Weile fällt niemandem ein, was er sagen könnte.
Micky pfeift unschuldig vor sich hin. Ab und zu blickt sie zum Himmel, der in der Ferne eine seltsam grünliche Färbung annimmt. »Ich glaube, wir kriegen einen Platzregen.«
Tio und Ayse gehen schneller.
In Sandbach angekommen, eilen sie zuerst in die Geldwechselstube, um dafür zu sorgen, dass sie wieder Bargeld in der Tasche haben, damit sie auch im bewohnten Sandbach zurechtkommen, wenn sie dahin wollen. Danach will Tio endlich in den Supermarkt, um sich wieder mit Rumbariegeln einzudecken, nach denen er langsam süchtig wird.
»Und jetzt?«, fragt Tio, als sein Rucksack überquillt und sie auf dem Gehweg vor der leeren Herberge stehen. Er blickt Micky an. »Hast du vor, hier zu bleiben?« Er macht eine unbeholfene Bewegung in ihre Richtung. »Ich wünsche dir, dass du Hugo schnell findest und dass mit ihm alles wieder in Ordnung kommt.«
Micky blinzelt. Sie weiß, dass sie ihre neuen Freunde vermissen wird, wenn sie allein weitermacht. Doch hier zu bleiben hat für die beiden keinen Sinn, wenn sie sich nicht mehr sicher und unauffällig in Terrasse umschauen können.
»Sollen wir dir noch eine Nacht Gesellschaft leisten?«, schlägt Ayse vor.
»Nee … das muss nicht sein«, sagt Micky leichthin. Aber dann gibt sie zu: »Okay, ich würde lügen, wenn ich behaupte, es wäre mir egal. Es wäre sehr schön, wenn ihr noch einen Abend bleiben könntet.«
Ayse und Tio ist es ziemlich egal, wann sie zurückgehen. Die Zeit, die zu Hause verstreicht, ist minimal verglichen mit den Stunden und Tagen, die in dieser Welt vorübergehen.
Sie trinken eine Kanne Honigsüß und unterhalten sich gemütlich den ganzen Abend lang, während der Regen, vor dem Micky sie unterwegs gewarnt hat, sich nicht als Platzregen herausstellt, sondern stundenlang bis zur Morgendämmerung auf das Dach der Herberge trommelt. Irgendwie ist das ein beruhigendes und behagliches Geräusch, und die drei schlafen wunderbar dabei.
Am nächsten Morgen aber regnet es noch immer, und nun findet es Ayse langsam weniger angenehm. »Zurück zur Kiste kommen wir nur über den Weg durch die Weiden und am Haus von Sirpa vorbei. Dann sind wir klatschnass, bevor wir die Kiste erreicht haben.«
»Kiste?«, fragt Micky mit großen Augen.
Tio schaut sie überrascht an. »Zum Teufel, ja, ich hab dich noch nie gefragt, wie du eigentlich hergekommen bist.«
Micky zuckt mit den Schultern. »Einfach durch den großen schwarzen Koffer,
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