Zwischenwelten (German Edition)
Bruder. Der gibt eine mürrische Antwort, doch Hala lässt sich davon nicht entmutigen.
»Welches denn willst du haben?«, fragt sie.
Ayse geht vor der Werkbank hin und her. Gleich unter dem Fenster stehen noch einige Arbeiten. Eine davon ist ein Relief aus dem weichen graubraunen Holz der Runji, das Ayse in ihrer eigenen Welt noch nie gesehen hat. Das Kunstwerk ist flach und rechteckig wie ein Bild, das man an der Wand aufhängt, und es zeigt unverkennbar ein Boot der Runji. Das Boot fährt über ruhige Wellen, und unter der Wasseroberfläche sind Fische und Seegras zu sehen. »Meinst du, dass er mir das hier verkauft?«, fragt Ayse Hala, aber sie wendet sich dabei an Kivan. Auch wenn er ihre Sprache nicht versteht, kapiert er bestimmt, was sie meint, wenn sie auf die Schnitzerei zeigt und er den fragenden Ton in ihrer Stimme hört.
Kivan lässt seinen Blick von Ayse zu dem Relief und wieder zurück gleiten. Dann beugt er sich vor, greift die Tafel und legt sie mit einer geradezu schüchternen Bewegung flach vor Ayse hin.
»Findest du das auch am schönsten?«, fragt Ayse Tio. »Oder willst du ein anderes? Wollen wir zusammen was aussuchen?«
»Ich fürchte, dafür haben wir nicht mehr genug Khansi.« Tio schüttelt den Kopf. »Aber das macht nichts, such du dir eins aus.«
Ayse leert ihren Rucksack aus. Hastig stopft sie die Runjiklamotten wieder zurück, die sie in einer anderen Welt aus einem Runjiladen entwendet hat und die hier noch nicht in Mode zu sein scheinen. Sie legt ihre letzten Khansi auf den Tisch. Es sind noch genau vierzig. »Ob das genug ist?«
Aber Kivan wirkt, als gerate er völlig aus der Fassung. Er zeigt auf die schimmernden Münzen und sagt etwas, das Ayse nicht versteht. Dann zieht er rund sechs von den Münzen zu sich und schiebt die Schnitzerei zögernd über den Tisch zu Ayse hin.
»Er will nur sechs haben!«, ruft Ayse.
Da nimmt Tio doch noch ein Stück von der Werkbank, eine so kleine Schnitzerei, dass sie in seine Hand passt, ein Minikunstwerk, das an einen Delfin erinnert. »Ein schöner Schlüsselanhänger.« Er grinst, hält das Stück hoch und schaut Kivan fragend an. Dann schiebt er mit einer bedächtigen Handbewegung alle restlichen Khansi auf Kivan zu. »Hala, sag deinem Bruder bitte, dass wir die beiden Arbeiten sehr gern haben würden und dass sie uns vierzig Khansi wert sind.«
Hala übersetzt und kann ein breites Grinsen nicht unterdrücken.
Kivan hört ihr zu, kratzt sich hinter dem Ohr und sagt leise etwas zu Ayse.
»Ist das gut so?«, fragt Ayse.
»Ich denken schon«, sagt Hala und nickt begeistert.
»Wunderbar!«, ruft Ayse fröhlich, und noch bevor Kivan begreift, wie ihm geschieht, stößt ihn Ayse freundlich in die Seite. »Danke! Ich finde das hier unheimlich toll!«
Im ersten Moment scheint der Junge nicht zu wissen, was er tun soll – zurückschlagen? –, doch dann schmelzen seine störrischen Gesichtszüge zu einem starren Lächeln. Rasch tritt er einen Schritt zurück.
»Wenn Sorin kommt vom Markt, lache ich«, ruft Hala. »Er hat Holzschnitz mit, woran er gearbeitet drei Wochen. Er hofft, dreißig Khansi zu haben, hat er gesagt. Kivan gewinnt! Und Kivan braucht nicht mal zum Markt. Seine Kunden kommen speziell zu ihm ans Haus!« Sie wiederholt, was sie gesagt hat, für ihren Bruder auf Runji, und nun erscheint ein etwas breiteres Lächeln auf dessen Gesicht. Er dreht sich schnell um, und vor sich hin brummelnd fängt er an, sich mit seinen Beiteln zu schaffen zu machen.
»Komm, wir gehen«, sagt Ayse. Sie begreift, dass der spröde Junge sich nicht durch eine einzige gute Erfahrung in einen fröhlichen Menschen verwandeln kann, doch als sie sich in der Tür noch einmal umdreht, schaut Kivan auf, und dann winken sie sich beide gleichzeitig ungeschickt zum Abschied zu. Es ist das erste Mal, dass sie sich nicht im Streit trennen.
»Ihr bleibt nicht Fisch essen?«, fragt Hala enttäuscht.
»Nein, wir müssen nach Hause. Tschüss, Hala, tschüss, Kivan. Vielleicht auf Wiedersehen.«
Tio und Ayse gehen über den Platz der Wanderbühne.
»Musst du heute wieder auftreten?«, fragt Ayse.
»Ja, aber erst am Nachmittag. Jetzt schlafen hier noch die meisten!«
Ayse sieht sich um. Es ist wirklich noch nicht viel los.
»Kommst du zuschauen?«, fragt Tio.
»Ich fürchte nein. Ich muss meiner Mutter helfen. Wir kriegen Besuch von meinen kleinen Nichten.«
»Dann heute Abend? Oder morgen, kommst du morgen wieder?«
»Natürlich«, versichert ihm
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