Zwischenwelten (German Edition)
sehen«, sagt Ayse. »Du etwa nicht?«
»Damit sie uns einen Stein an den Kopf schießen?«
»Sie müssen uns doch gar nicht bemerken. Wir können sie doch ganz vorsichtig aus dem Gebüsch heraus beobachten.«
Tio unternimmt einen halbherzigen Versuch, Ayse von dieser gefährlichen Idee abzubringen, doch er gibt bald auf. Wenn sich dieses Mädchen etwas in den Kopf gesetzt hat, ist sie nicht mehr davon abzubringen.
Das bedeutet aber, dass sie von Neuem hinüberwechseln müssen – über die Treppe am Kai in die bewohnte Welt. Tio versucht, seinen Verstand abzuschalten und sich unterwegs mit den Lebensmitteln bei Stimmung zu halten, die er beim letzten Mal mitgehen und in seinem Rucksack verschwinden lassen hat.
In der bewohnten Welt nähern sie sich vorsichtig wieder dem Flussdorf.
Ab und zu kommen ihnen Menschen entgegen. Tio und Ayse haben nicht die geringste Vorstellung davon, woran sie die Runji vielleicht erkennen könnten, und so tauchen sie bei jeder Gestalt, die sich von Weitem nähert, schleunigst in das nächste Gebüsch ab, was ihren Weg endlos lange dauern lässt.
Als sie das Dorf beinahe erreicht haben, hat es Tio satt.
»Da kommen schon wieder Leute«, sagt Ayse.
»Ja, und tschüss«, brummt Tio. »Ich gehe jetzt einfach weiter.«
»Sei doch nicht so blöd«, faucht Ayse ihn an. »Du weißt doch gar nicht, von welchem Volk die sind! Wenn es Runji sind, die da kommen, und sie sehen dir an, dass du nicht zu ihnen gehörst, wer weiß, was sie dann mit dir machen!«
»Wahrscheinlich nichts.« Tio zuckt mit den Schultern. »Du hast ihr Dorf gesehen. Sie haben fantastische Schnitzereien, tolle Häuser und was noch alles. Das sind zivilisierte Leute.«
»Zivilisierte Leute, die mit Felsbrocken ganze Häuser kaputtschießen?«
»Ach, die beiden Völker haben nun mal Streit. He, ich weiß immer noch nicht, wie die anderen heißen, wie sie sich selbst nennen. Die haben doch bestimmt auch einen Namen. Meinst du nicht?«
Ayse murmelt irgendetwas.
»Na ja, vielleicht auch nicht. Ich hab Sirpa nichts davon sagen hören.«
Ayse antwortet nicht, sondern sieht der Gruppe entgegen, die auf sie zukommt. Mittendrin fährt ein zierlicher Wagen. Als sie näher gekommen sind, sieht Ayse, dass Kinder auf dem Wagen sitzen. Die Erwachsenen laufen nebenher. Der Wagen hat etwas geladen, und die Kinder sitzen zum Teil darauf. Vielleicht sind es Handelswaren, und diese Leute kommen von einem Markt? Der Wagen ist aus demselben hellen graubraunen Holz wie die Häuser der Runji und erinnert an alte Bauernwagen, ist aber mit wunderbaren Schnitzereien verziert. Auch dieser Wagen scheint von alleine und nahezu ohne Geräusch zu fahren.
Der Wagen ist nun ziemlich nahe, und Ayse kann nicht anders, sie schleift Tio wieder mit sich ins Gebüsch. »Sicher ist sicher«, sagt sie leise.
»Die Runji sind auf jeden Fall leicht zu erkennen«, bemerkt Tio, als sie vorbeiziehen. »Sie tragen alle Mützen.«
»Eigentlich so eine Art Schal«, bestätigt Ayse nickend. »Wenn ich das richtig gesehen hab. Den haben sie ganz kompliziert um den Kopf gewickelt.«
»Und ihre Klamotten sind auch wieder anders als die, die wir jetzt tragen.« Tio zupft mit Daumen und Zeigefinger an seinem weißen Hemd.
»Die Modelle nicht, aber der Stoff«, stimmt Ayse zu. »Irgendwie silbrig. Er glänzt.«
Tio hilft Ayse wieder auf die Beine, und nachdem der Wagen um eine Kurve verschwunden ist, gehen sie weiter in Richtung der Runjiflöße.
Als sie am Ufer angekommen sind, kriechen sie auf Händen und Knien durch einen Schilfgürtel bis dicht zu einem leicht schwankenden Haus, an dessen Rückseite sich ein offener Hof befindet. Dort beugen sich drei Männer und eine Frau nachdenklich über ein großes Blatt Papier.
»Bestimmt der Entwurf für noch so ein schönes schwimmendes Haus«, flüstert Ayse. »Ich wünschte, dass sie bei uns auch so was bauen würden. Ich würde gerne in so einem wohnen. Du auch?«
»Aber erst müssten die kriegslüsternen Runji abhauen.« Tio verzieht das Gesicht.
Er duckt sich und schiebt sich vorsichtig noch etwas näher heran. Plötzlich verhakt sich sein linker Fuß in einem Schilfbüschel, und mit ausgestreckten Händen, um sich abzufangen, fällt er nach vorne. Zum Glück schlägt er der Länge nach ins Wasser und verletzt sich nicht. Er muss lachen, schließlich war das ein klasse Kopfsprung. Triefend steht er wieder auf. Dann zupft er sich ein paar Wasserpflanzen, die an Gras erinnern, von den Schultern und dreht
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