Zwischenwelten (German Edition)
geschossen.«
»Wer?«, fragt Ayse.
Wieder schweigt die Frau kurz misstrauisch. »Die Runji.«
»Runji?«
»Das Flussvolk.«
»Womit haben sie denn geschossen?«, will Tio wissen und starrt auf das Loch im Dach.
»Mit Felsbrocken natürlich.« Sirpa runzelt die Stirn und schaut die beiden kopfschüttelnd an. »Ihr kommt wohl wirklich von sehr weit her. Habt ihr tatsächlich noch nie was von den Runji gehört?«
Tio zieht die Schultern hoch. »Nein. Warum heißen sie das Flussvolk? Wohnen sie am Wasser?«
»Mehr oder weniger auf dem Wasser. Sie leben auf riesigen schwimmenden Flößen. Die müsst ihr doch unterwegs gesehen haben?«
»Wir sind gar nicht in die Nähe eines Flusses gekommen«, sagt Ayse. »Nur an das Meer. In die Stadt da.« Sie zeigt in die Richtung.
»Der Fluss Risande mündet ins Meer. Er fließt in diese Richtung. Na, es ist gut, dass ihr nicht zufällig da vorbeigekommen seid, wenn ihr nicht mal wisst, welcher Krieg hier stattfindet! Die Runji hätten euch gnadenlos gefangen genommen.« Mit einer zornigen Bewegung zieht Sirpa die Ärmel ihrer hellbraunen Hemdbluse hoch, bückt sich und fängt wieder an, Ziegelscherben aufzusammeln.
Tio hebt ein schweres Holzstück auf, das an einem Ende zersplittert ist. »Womit schießen sie die Felsbrocken ab? Ich meine den, äh, Schießapparat, also, was für ein Ding muss ich mir da vorstellen? Eine Art Kanone?«
»Kanone?«, wiederholt die Frau. Dann zuckt sie mit den Schultern. »Sie schießen mit einer Schwinge.«
Tio muss sich das Lachen verkneifen und hält sich eine Hand vor den Mund. »Heißt das Ding so? Tut mir leid, ich finde das nur einen so lustigen Namen.«
Sirpa findet es gar nicht lustig. »Ach ja? Warte mal ab, bis du damit einen Felsbrocken um die Ohren kriegst!«
Eine Zeit lang arbeiten sie schweigend nebeneinander. Tio traut sich nicht mehr, etwas zu fragen. Sirpa fühlt sich nicht veranlasst, noch irgendetwas zu erzählen, und Ayse ist in Gedanken versunken. Als sie ein ordentliches Stück Hof vom Schutt befreit haben, bietet die Frau ihnen etwas zu trinken an. Tio und Ayse nehmen das nur allzu gerne an, denn von dem vielen Staub haben sie einen trockenen Mund.
Die Frau verschwindet nach drinnen, um Saft zu holen, und sobald sie außer Hörweite ist, flüstert Ayse: »Ich möchte das Volk gerne sehen!«
»Das Flussvolk?«, fragt Tio. Er sieht nicht begeistert aus. »Das kommt mir aber ziemlich gefährlich vor.«
»Vielleicht nur aus der Entfernung?«, fragt Ayse. »Ich will die Flöße sehen, von denen die Frau erzählt hat. Klingt doch irre!«
»Hm, ja, und die Schwingen.« Tio nickt. »Aber wir müssen ganz vorsichtig sein. Ich hab keine Lust, einen Stein an den Kopf zu kriegen!«
Sie bekommen den gleichen Feldbeerensaft, den sie schon am Morgen auf der Terrasse getrunken haben. Sie haben ihre Gläser noch nicht ganz geleert, als ein Mädchen, etwas jünger als Ayse, auf den Hof geschlendert kommt. Ihre Haare sind nicht so kurz wie die der erwachsenen Frauen, aber auch nicht so lang wie die der kleinen Kinder, die Ayse durch die Straßen des Städtchens hat rennen sehen. Sie trägt eine Schuluniform, eine graue Bluse mit einem knallroten Band darum. Sie begrüßt die Fremden neugierig, nachdem sie sie eingehend gemustert hat, und stellt sich selbst vor: »Sirje.«
»Meine Tochter«, sagt die Frau.
Das Mädchen will wissen, wer dieser unerwartete Besuch ist, und Sirpa erklärt es ihr, wobei sie wieder den misstrauischen Blick bekommt. »Tja, sie haben so was noch nie gesehen. Sie sind nicht von hier.«
»Von woher dann?«, will Sirje wissen und schaut Ayse und Tio neugierig an.
»Von …«, fängt Ayse an, zögert dann und beißt sich auf den Daumennagel.
»Von der Wanderbühne«, sagt Tio schnell. »Noch nie davon gehört? Wir reisen mit einer Gruppe Clowns und Zauberkünstlern und sonst was allem rum. Im Moment stehen wir im Wald da hinten.« Er zeigt in eine unbestimmte Richtung.
»Wie schön!«, ruft Sirje begeistert. »Kann ich gucken kommen?«
»Bei den Vorstellungen, meinst du? Äh … natürlich, nur … die fangen nicht vor morgen Abend an, wir sind gerade erst angekommen.«
Sirje zieht ihre Mutter am Blusenärmel. »Hast du das gehört, Sirpa? Morgen Abend! Gehen wir hin?«
»Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte«, fährt ihre Mutter sie an. »Und als ob wir unser Geld nicht besser verwenden könnten als für eine Bande von Artisten!« Die Worte sind ihr noch nicht ganz über die Lippen gekommen,
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