Zwischenwelten (German Edition)
nicht am Hemd packen und aus dem Wasser ziehen.
Ziemlich schnell hat Ayse einen Entschluss gefasst: Sie muss und wird in der richtigen Welt nachsehen. Denn es könnte gut sein, dass sie sich hier den Kopf zerbricht, während bei der Wanderbühne alles beim Alten geblieben ist und Tio einfach nur darauf wartet, dass sie endlich kommt und sich noch mal seinen Zaubertrick mit der Kiste anschaut.
Vielleicht können sie dann das Spiel einfach von Neuem beginnen! Vielleicht aber speichert es auch automatisch, und sie können wieder beim Haus von Sirpa starten.
Sie rennt los, raus aus dem Städtchen und über die stillen Wege zwischen den Weiden, vorbei an verlassenen Häusern, vorbei am Bauernhof von Sirje und Sirpa, die es in dieser menschenleeren Welt nicht gibt.
Der Himmel über den Feldern wird immer dunkler, das warme Orange ist verschwunden. Nur noch ein zartes, blasses Gelb schwebt über dem Horizont. In dem Wald, der vor Ayse liegt, herrscht mondlose Dunkelheit.
Ayse sagt sich selbst, dass es in dem dunklen Wald gar nicht unheimlich sein kann, wenn die Welt, in der sie sich befindet, leer und verlassen ist. Wenn niemand da ist, kann ihr auch niemand etwas antun.
Plötzlich fliegen aus einer Baumkrone zwei große schwarze Krähen auf, und ihr Gekrächze und Geschrei erschrecken Ayse so, dass ihr fast das Herz stehen bleibt.
O ja, Tiere leben seltsamerweise in dieser Welt ohne Menschen.
Wölfe. Ob es in diesem Wald wohl Wölfe gibt? Oder Bären, nicht die braunen kuscheligen, sondern die haushohen mit Klauen wie Heugabeln?
Und wenn sie schon dabei ist, sich grausige Sachen auszudenken, wer weiß denn, ob in dieser Welt nicht auch Tiere leben, die es in ihrer gar nicht gibt?
Merkwürdigerweise hat sie keine Angst davor, dass die Kiste nicht da sein könnte. Irgendwie ist sie davon überzeugt, dass sie da steht, wo sie sie zuletzt gesehen haben.
Und sie hat recht. Wenn Tio, dieser Trottel, nicht ins Wasser gefallen wäre, könnten sie jetzt zu zweit nach Hause gehen und sich in ihrer vertrauten Umgebung ein bisschen ausruhen. Ayse beißt sich auf die Lippen, als ihr einfällt, dass sie es war, die unbedingt noch die Runji sehen wollte. Tio ist nur mitgegangen, weil sie so darauf gedrungen hatte. Ist jetzt sie daran schuld, dass er irgendwo gefangen gehalten wird? Schnell schüttelt sie den Kopf. Runji gibt es nicht. Tio ist zu Hause.
Ayse steigt in die Kiste und windet sich durch, wie Tio es ihr gezeigt hat. Sie muss kichern bei dem Gedanken, dass Tios Vater vielleicht schon mit der Vorstellung angefangen hat. Der würde vielleicht komisch gucken, wenn da anstelle seines Sohns plötzlich mitten auf der schwarzen Bühne ein Mädchen aus der Kiste geklettert käme.
Die Kiste scheint aber noch hinter dem Vorhang zu stehen. Die Bühnenbeleuchtung ist aus und kein Mensch in dem düsteren Zelt.
Als Ayse ins Freie tritt, kneift sie überrascht von dem hellen Sonnenlicht auf dem Platz die Augen zusammen. Gerade ist sie noch abends im finsteren Wald gewesen, und hier ist es mitten am Tag!
Mittagspause, schießt es ihr durch den Kopf. Das wollte Buba machen, als sie sich getrennt haben. Hier ist kaum Zeit vergangen, seit sie und Tio losgezogen sind. Wie lange braucht man, um ein Spiel zu spielen? Kann man das, ohne dass Zeit vergeht?
Ob Buba schon zurück ist von seinen Einkäufen?
Ayse dreht eine Runde über den Platz, wo kaum was los ist. Die Stände sind noch zu, die Vorstellungen fangen noch lange nicht an. Es ist viel zu früh dafür.
Von Buba ist nichts zu sehen. Sein Zelt steht zwar noch da, doch der Eingang ist zugezogen, und die Decke davor ist aufgerollt und zur Seite gelegt.
Ayse merkt, dass Verzweiflung in ihr aufsteigt, doch sie verdrängt sie wieder. Ruhig bleiben. Es kann gut sein, dass Tio hier irgendwo rumläuft. Sie fragt alle, denen sie begegnet, den Mann von der Pommesbude und den mit der Zuckerwatte. »Haben Sie Tio vielleicht irgendwo gesehen? Ja? Wann war das?« Heute Morgen, bekommt sie zur Antwort. Vor ein paar Stunden. Der Wagen seines Vaters steht da, der schwarze mit den silbernen Sternen. Frag da doch mal. Ja, danke, mach ich.
Tios Vater kommt gerade nach draußen. Er nickt dem Mädchen zu. Irgendwo hat er sie schon mal gesehen, doch er weiß nicht wo. Vielleicht hat sie im Publikum gesessen. Ach, nein, fällt ihm wieder ein, ist sie nicht eine Freundin von Tio? Sie hat ja gestern bei ihnen gegessen.
»Hallo, weißt du vielleicht, wo Tio ist?«, fragt er sie im selben Moment, als
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