Zwischenwelten (German Edition)
sich zu dem Schilfgürtel um, wo eigentlich Ayse sein sollte. Aber er sieht sie nicht. Er macht einen Schritt auf das Schilf zu, späht zwischen die Stängel und hat schon den Mund aufgemacht, um Ayse zu rufen, als er hinter sich eine barsche Stimme hört.
»Ha!«, ruft ein Mann.
Tio blickt sich um. »Oh … hallo«, murmelt er verlegen. Die drei Männer und die Frau, die sich gerade noch über die Zeichnung gebeugt hatten, stehen an der Brüstung.
»Komm mal her!«, befiehlt der eine.
»Nein, nein …«, keucht Tio hastig. »Ich muss … ich gehe …« Er hebt die Hand. »Tut mir leid, aber …« Aus den Augenwinkeln sieht er, wie die Frau eine blitzschnelle Bewegung macht, dann sticht etwas in seine Schulter. »Au!«, japst er erschrocken.
Die Frau hat einen langen Stock in der Hand, an dessen Ende ein spitzer Widerhaken angebracht ist, der jetzt fest in Tios Hemd sitzt. Die Frau reißt Tio, der darauf überhaupt nicht gefasst ist, mit einem kräftigen Ruck zu sich hin.
Tio spuckt Wasser und protestiert. »Hören Sie mal, ich hab doch nichts getan! Lassen Sie mich los!«
Aber nun greifen die Männer nach ihm und ziehen ihn aus dem flachen Wasser.
Tio will Ayse etwas zurufen, überlegt es sich aber anders. Das sind Runji, die Runji, die für die kaputten Dächer, vielleicht auch für die schwarze Rauchwolke über den Feldern verantwortlich sind. Das kriegslüsterne Volk. Sie haben Ayse zwischen den braungrünen Schilfstängeln möglicherweise nicht gesehen. Wenn er sie jetzt ruft, verrät er sie den Runji, von denen er nicht weiß, was sie vorhaben. Es ist besser, er hält den Mund. Ayse muss sich einfach um sich selbst kümmern, und Tio glaubt, dass sie das kann. Außerdem befindet sie sich höchstwahrscheinlich in einer weniger besorgniserregenden Lage als er.
Ayse hat sich klugerweise mucksmäuschenstill verhalten. Sie hat zugesehen, wie Tio wie ein dösiger Barsch aus dem Wasser gefischt wurde und gar nicht begriff, wie ihm geschah. Dann hat sie gewartet. Lange gewartet, ob er zu ihr zurückkommen oder sie eventuell rufen würde, damit sie zu ihm kam, zu den Runji, die vielleicht doch freundlich waren.
Aber es ist nichts passiert. Nicht nach einer Sekunde, nicht nach einer Minute und nicht nach einer Stunde.
Sie hat beobachtet, wie Tio von den Männern und der Frau mit ins Haus genommen wurde. Und kurz darauf hat sie andere Runji kommen und gehen sehen.
Allmählich wurde ihr kalt, und sie saß mit Gänsehaut auf den Armen in den immer länger werdenden Schatten an dem kalten Fluss. Wolken kleiner Mücken, die in dem Schilfgürtel ihren Unterschlupf hatten, machten ihr zu schaffen. Zögernd und widerwillig stand sie schließlich auf und schlich davon.
Nun ist sie wieder in dem Städtchen am Meer und sitzt, nachdem sie über die Treppe zum Wasser gegangen ist, allein auf der Terrasse einer menschenleeren Kneipe am Hafen. Sie blickt auf die orangefarbenen Wellen, die die untergehende Sonne spiegeln. Was soll sie jetzt machen?
Am besten wäre es wohl, jemanden um Hilfe zu bitten, denn sie weiß ja noch immer nichts über die Runji. Hielten sie Tio gefangen? Taten sie ihm irgendwas an? Oder war er einfach nur ihr Gast? Aber warum hat er sie dann nicht geholt? Gehörte das womöglich zum Spiel?
Die Stille braust ihr in den Ohren, und Ayse ist froh, als ein leichter Abendwind aufkommt, der das Wasser kräuselt und an den Kai plätschern lässt. Ein vertrocknetes Blatt wird leise raschelnd über die Uferpromenade geweht.
Sie ist wie von selbst hierhergekommen, weil sie vom Fluss wegwollte und nicht wusste, was sie sonst machen könnte. Inzwischen fragt sie sich aber, ob sie sich nicht doch besser in der bewohnten Welt aufhalten sollte, wo ihr vielleicht Menschen sagen würden, was zu tun sei.
Sie könnte zu Sirpa und Sirje gehen. Die könnten ihr mehr über die Runji erzählen. Oder sollte sie vielleicht die andere Spielerin suchen, dieses Mädchen, das sie am Kai getroffen haben?
»Ich will eigentlich einfach nur nach Hause«, hört sich Ayse selbst sagen. Es klingt jämmerlich. Sie erschrickt darüber, wie ihre Stimme die Stille durchschneidet. »Alleine kann ich hier doch gar nichts ausrichten.«
Könnte es nicht so sein, dass Tio jetzt in der normalen Welt, ganz wie immer, neben seinem Vater auf der Bühne steht? Wenn das alles hier nur ein Spiel ist, dann kann er in der wirklichen Welt nicht von den Runji gefangen genommen worden sein, denn Runji gibt es nicht, und Spielfiguren können einen
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