Zwischenwelten (German Edition)
sie den Mund aufmacht und sagt: »Wissen Sie vielleicht, wo … oh …«
Beide schütteln den Kopf.
»Verdammt«, murmelt sein Vater, »der soll sich mal ein bisschen ranhalten, in einer Stunde fangen wir an. Ich versteh das nicht. Normalerweise hilft er mir jeden Mittag bei der Vorbereitung.«
Ayse will noch etwas sagen, aber Tios Vater hat sich bereits verärgert abgewandt und stiefelt davon.
Ayse steckt einen Finger in den Mund und knabbert unentschlossen am Nagel. Was soll sie jetzt machen? Ihr fällt nichts anderes ein, als wieder zurückzugehen, wieder durch die Kiste und in die andere Welt zu steigen. Oder soll sie hierbleiben, nach Hause gehen und nicht mehr darüber nachdenken, was passiert ist? Und wenn morgen in den Zeitungen Schlagzeilen über einen vermissten Jungen stehen? Wenn sie den Fernseher einschaltet und es eine Suchmeldung gibt, in der genau der Junge beschrieben wird, den sie bei den Runji zurückgelassen hat, schlimmer noch, der durch ihr Zutun dort gelandet ist und jetzt vielleicht nicht mehr fortkann, wenn sie nichts unternimmt?
Sie versucht sich vorzustellen, wie sie nüchternen Polizeibeamten klarmachen soll, dass sie den Jungen in einem eigenartigen Spiel finden, in das man aber nur durch die schwarze Kiste eines Zauberkünstlers gelangen kann. Wahrscheinlich würden sie sie auf der Stelle packen und in eine Irrenanstalt verfrachten. Und das könnte man ihnen nicht einmal übel nehmen.
Aus irgendeinem Grund ist sich Ayse aber ganz sicher, dass sie niemanden mit durch die Kiste nehmen kann. Auf jeden Fall keinen Erwachsenen. Wenn sie Tios Vater in die Kiste bekäme, würde er nichts anderes als die schwarzen Holzwände sehen, und es würde ihm nichts Seltsames passieren. Buba vielleicht, ja, der käme sicher auch hindurch. Aber möglicherweise hat er gar keine Kiste nötig, dieser bunte Zauberer, weil er auf seine eigene Art von Welt zu Welt wandert.
Plötzlich spürt Ayse, wie die andere Welt an ihr zieht. Es kann gut sein, dass er dort ist, Buba. Er hat gesagt, dass er etwas besorgen wollte. Er hat aber nicht gesagt wo. Ach ja, er hat sich den Weg zum Einkaufszentrum beschreiben lassen. Vielleicht hat er nur so getan, als wollte er dorthin? Es könnte doch sein, dass er seine Besorgungen einfach in der unbewohnten Stadt macht! Ganz bequem, und es kostet nichts.
Sie schüttelt ihre Entschlusslosigkeit ab und flitzt in das Zelt. Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, stürmt sie an Tios Vater vorbei hinter den schwarzen Vorhang und taucht in die Kiste.
Diesmal macht ihr der dunkle Wald nichts aus. Sie ist ganz auf den Gedanken konzentriert, Buba irgendwo in der Nähe des leeren Supermarkts zu finden, und rennt einfach drauflos. Auf halber Strecke zwingt sie starkes Seitenstechen dazu, etwas langsamer zu laufen, doch sie gönnt sich nicht die Zeit, anzuhalten und wieder zu Atem zu kommen.
Bald darauf steht sie wieder in der kleinen Stadt. Laternen beleuchten die breiten Straßen, aber viele Nebenstraßen und Gässchen liegen im Dunkeln. Sie schaudert kurz, als sie in eine solche Gasse einbiegt, beißt aber die Zähne zusammen und geht weiter.
Im Supermarkt ist es nicht völlig dunkel, da einige elektrische Geräte ein schwaches kaltes Licht verbreiten: die Tiefkühltruhen, eine Kühlvitrine und ein Schrank mit gekühlten Getränken.
Über dem Eingang leuchtet ein Lämpchen wie ein kleines rotes Auge, und die Tür rauscht zur Seite, als Ayse darauf zugeht.
»Buba? Babatunde?«, ruft sie entschlossen.
Doch es kommt keine Antwort, der Supermarkt ist genauso menschenleer wie sonst auch. Hier ist niemand, der umsonst einkauft, das spürt sie deutlich. Ayse überkommt eine plötzliche Müdigkeit. Sie merkt, dass ihre Beine anfangen zu zittern. Vielleicht auch vor Hunger.
Ohne groß nachzudenken, nimmt sie sich ein paar Schokoriegel aus dem Regal und ein Fläschchen mit gelber Flüssigkeit – sie hofft, dass es der Feldbeerensaft ist, den sie schon getrunken hat – aus der Kühlvitrine. Mit ihren Vorräten trottet sie wieder nach draußen. Ohne Schwierigkeiten findet sie zu dem leeren Gasthaus. Dort brennen noch immer alle Lichter, die Tio für sie angeschaltet hat. Sie schlurft hinein, nach oben, zu dem Zimmer, in dem das weiche Bett steht, in dem sie schon geschlafen hat, und lässt sich in die Kissen fallen. Sie weiß gar nichts mehr.
Morgen. Morgen wird sie wieder versuchen nachzudenken.
Ayse hat sich entschieden. Der Schlaf hat ihr gutgetan, und sie ist wieder voller
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