Zwischenwelten (German Edition)
gar nicht so rückständig, nur ihre Wagen sind ein bisschen primitiv. Vielleicht versteht Buba nichts von Autos und hat sie deshalb einfach weggelassen. Er hat nur an Elektrokarren gedacht. Und vermutlich versteht er auch nichts von Waffen, doch er wollte einen Krieg, und da hat er sich die Schwinge ausgedacht. Ganz simpel.«
»Aber warum hat er sich einen Krieg ausgedacht? Doch wohl nicht nur so zum Spaß!«
»Ach, es ist nur ein Spiel. Da gib es keine Toten.«
»Ich sehe den Fluss!«, ruft Ayse begeistert, als sie oben auf dem Hügel angekommen sind.
Tio folgt ihrem Blick und sieht in der hellen Nachmittagssonne Wasser glitzern.
»Aber sollen das die Flöße sein? Das sieht nach normalen Häusern aus.« Ayse klingt enttäuscht.
»Häuser?«, wiederholt Tio mit großen Augen. »Halbe Paläste sind das!«
»Aber doch nichts, um damit zu fahren. Ich hab erwartet, dass die Runji herumzögen, eine Art Wasserzigeuner wären. Komisches Dorf, das auf dem Wasser liegt statt am Wasser.«
»Du klingst so enttäuscht. Ich finde, dass es sehr schön aussieht. Du nicht? Schau dir doch nur die vielen Kuppeln an.«
»Das will ich von Nahem sehen«, sagt Ayse entschieden. Sie dreht sich um, als wollte sie sofort wieder hinuntersteigen. Tio seufzt.
»Ayse, ich hab Hunger, und ich bin müde und will mich ausruhen. Erst will ich in der Stadt was essen. Danach vielleicht nach den Runji gucken. Und darauf hoffen, dass wir nicht von einem Felsbrocken erschlagen werden. Wir wissen doch gar nicht, wie feindselig diese Leute sind.«
Ayse bleibt stehen und dreht sich um. »Dann gehen wir doch über die Treppe!«
Tio wirft ihr einen überraschten Blick zu.
»Wir schauen uns erst mal das unbewohnte Flussdorf an, du Schlaumeier.« Ayse lacht Tio ins Gesicht. »Wir gehen über die Treppe, rauben in der leeren Stadt wieder mal den Supermarkt aus und schauen uns dann die leeren Häuser der Runji an. Was hältst du davon?«
Mit gefülltem Bauch und einem – vorher aus einem Geschäft geklauten – Rucksack voller Vorräte ist Tio nur zu bereit, wieder mit auf Entdeckungstour zu gehen. Von der Stadt aus ist das Dorf der Runji leicht zu finden. Der Fluss, an dem es liegt, fließt an der Stadt vorbei, ehe er in das Meer mündet, und sie müssen ihm nur folgen, bis sie an die Stelle kommen, die sie vom Hügel aus gesehen haben. Der Weg dorthin dauert kaum eine Viertelstunde.
Zum Glück hat der Trick mit der Treppe wieder funktioniert. Das Dorf der Flussmenschen ist so leer und verlassen wie das Städtchen am Meer.
Mit großen erstaunten Augen betreten Ayse und Tio die auf dem Wasser gebauten Häuser der Runji.
»Flöße«, sagt Tio noch einmal leise und schüttelt den Kopf. »Das nennen sie Flöße. Das sind doch komplette Straßen und richtige Wohnhäuser!«
»Es ist wunderschön«, findet Ayse.
Das Dorf ist aus einem hellen, braungrauen Holz gebaut. Es sieht etwas verwittert aus, doch als Ayse das Holz berührt, fühlt es sich so weich wie Samt an. Nirgendwo in dem Dorf sind scharfe rechte Winkel zu finden. Alles ist gebogen, hohl geschmirgelt, glatt geschliffen und wirkt verspielt und zierlich.
»Und das sind Leute, die Krieg führen und Steine abschießen?«, fragt Tio verwundert. »Und gleichzeitig bauen sie solche Wasserpaläste? Seltsam.«
Selbst die Kuppeldächer bestehen aus Holz, die graubraunen Dachpfannen sind Stück für Stück auf Maß gefertigt und zu einem Mosaik ineinandergepasst.
Die Straßen erinnern an hölzerne Landungsbrücken, doch sie bilden mit ihren runden und gewundenen Formen eher das Flussufer nach, sie kreuzen sich oder schlängeln sich als Viadukte über- und untereinander durch. Ab und zu sind Straßen mit zierlichen Brücken verbunden, die Tio an Bilder der italienischen Stadt Venedig erinnern, die er einmal gesehen hat. Viele Boote aus demselben sandfarbenen Holz sind mit dicken Seilen an Pfählen festgemacht.
Die einzigen Verzierungen, die es hier und da an dem Holz von Häusern, Booten und Anlegestegen gibt, sind fischartige Gebilde, die als Reliefs in das Holz geschnitzt sind.
Vorsichtig streicht Ayse mit dem Zeigefinger über eine Fischschnitzerei. »Das sieht aus wie ein Delfin.«
Tio blickt auf den Holzboden unter seinen Füßen. »Spürst du es auch? Alles schaukelt – wie auf einem Boot.«
Ayse nickt. Die Stadt aus Holz ist durch Brücken mit dem Ufer verbunden, doch die hölzernen Häuser und Straßen schwingen leicht auf dem Wasser auf und nieder. »Ich will diese Leute
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