Zwischenwelten (German Edition)
Energie. Sie geht jetzt zu Sirpa und Sirje. Sie will mehr über die Runji wissen, und die beiden können ihr bestimmt das eine oder andere erzählen.
Der Gang über die Treppe am Kai ist fast schon zur Routine geworden. Ohne sich noch einmal umzusehen, steigt sie die eine Treppe hinab und die andere wieder nach oben, und es kümmert sie nicht, ob sie vielleicht jemand dabei beobachtet.
In der bewohnten Welt ist viel Betrieb auf der Strandpromenade. Ayse sieht Stände und Decken mit ausgelegter Ware. Offenbar ist heute Markttag. Rasch geht sie durch das Gedränge.
Doch die auffallenden Farben einer rot und orange gestreiften Decke drängen sich ihrem Blick regelrecht auf. Langsam dreht sie den Kopf, blickt auf die Decke und dann auf den Mann, der im Schneidersitz darauf Platz genommen hat. Zögernd schiebt sie sich näher und hockt sich vor ihn hin. »Buba!«
Der Mann trägt dieselbe verspiegelte Sonnenbrille wie beim letzten Mal, und Ayse kann nicht erkennen, ob er sie anschaut. Er scheint nicht überrascht zu sein, sie hier zu sehen. Eher enttäuscht, weil sie alles verpfuscht haben? Sie will ihm erklären, was passiert ist, sie will von den Runji erzählen. Sie will ihn fragen, wie er hergekommen ist – auch durch die Kiste? Nein, er hat sicher seinen eigenen Weg. Und warum ist er heute hier? Oder kommt er immer am Markttag her, so wie andere Händler einfach das eine oder das andere Dorf in der Umgebung besuchen? Sie versucht, hinter den verspiegelten Gläsern Augen zu erkennen. Sie macht den Mund auf, um etwas zu sagen, schließt ihn aber wieder. Sie braucht ihm nichts zu erzählen, er weiß schon alles. Sie braucht ihn nichts zu fragen, denn wahrscheinlich gibt er doch keine Antwort. Die wichtigste Frage von allen, die ihr gerade durch den Kopf gegangen sind, »Was soll ich jetzt tun?«, erstirbt auf ihren Lippen, noch bevor sie sie ausgesprochen hat. Das Spiel spielen, hört sie die Antwort in ihrem Kopf.
Anstatt um Hilfe zu bitten, erzählt sie Buba, was sie jetzt machen wird: »Ich hab beschlossen, zu Sirje und Sirpa zu gehen. Vielleicht können die mir mehr über die Runji sagen. Ich glaube nicht, dass es klug ist, ihnen zu erzählen, dass Tio bei den Runji ist. Wer weiß, was ich damit auslöse, am Ende fangen sie gleich wieder an zu kämpfen, und ich bin schuld daran. Und außerdem, vielleicht ist Tio bei ihnen gar nicht so schlecht aufgenommen worden. Obwohl ich eigentlich glaube, dass er da festgehalten wird, denn sonst wäre er doch gekommen, um mich zu holen. Ich weiß noch nicht, wie ich ihn da wieder rauskriegen kann, wenn er wirklich gefangen gehalten wird … aber ich versuche erst mal, mehr in Erfahrung zu bringen.« Ist das richtig so? Spiele ich das Spiel, wie es sein soll, löse ich die Rätsel auf die richtige Art? Das sind die Fragen, die Ayse durch den Kopf gehen, die sie aber nicht stellt.
Sie sieht, wie Buba den Kopf neigt und ihr kaum wahrnehmbar zunickt. Ein Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Ayse steht auf und geht fort, aus der Stadt hinaus und über den Weg, der zu dem Bauernhaus mit dem zerstörten Dach führt.
Heute sind mehr Kinder bei dem Haus. Ein Junge von ungefähr neun Jahren hat sich selbst als Thorje vorgestellt. Er ist ein Bruder von Sirje. Ein Mädchen, das ungefähr so alt wie Sirje ist, sagt nichts und betrachtet Ayse nur misstrauisch. Sie scheint eine Freundin von Sirje zu sein. Es ist auch die Rede von einem Vater, doch der ist heute auf dem Markt, wie Sirje erzählt: »Mit Käse, Milch und Eiern.« Wie Ayse inzwischen ein paar Mal aufgeschnappt hat, heißt er Thorpa, und sie begreift, dass es ein System der Namensgebung dieser Menschen gibt: Sirpa und Thorpa mit den Kindern Sirje und Thorje. Im Stillen fragt sich Ayse, wie deren Kinder dann wohl heißen müssten und was wäre, wenn ein drittes Kind geboren würde.
Sie hat so getan, als ob sie zufällig an diesem warmen Morgen wieder vorbeigekommen wäre, als hätte sie einen Spaziergang gemacht, um sich die Umgebung anzuschauen. »Und ich hab mich gefragt, was mit dem Haus ist, ob das Dach schon repariert wurde und so.«
»Ha!«, stößt Sirpa aus, während sie ganze Wolken von staubigem Sand von den Treppenstufen vor ihrem Haus fegt. »Ich fürchte, das dauert noch eine Weile. Dafür brauchen wir viel Geld.« Sie lächelt bitter. Es geht kaum Wind, und unter den bleigrauen Gewitterwolken, die ab und zu vor der Sonne vorbeiziehen, ist es drückend schwül. Müde wischt sich Sirpa mit der Hand über ihr
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