Zwischenwelten (German Edition)
Fisch kaufen, die sie mit scheuem Blick tief in ihren Taschen verstecken. Als Ayse die Verkäufer hinter dem Tisch anschaut, begreift sie: Es sind Runji. Das erkennt sie an der silbrigen Kleidung und an den mit großer Kunstfertigkeit gebundenen Kopftüchern. Diese Menschen, die ihre Haare unter den Schals und eine Kleidung tragen, die wirkt, als ob der dünne Stoff mit Schuppen bedruckt wäre, lassen sie auf einmal an Fische denken. Die Runji bieten Fische an, die billiger sind als die der Salzländer – und vielleicht auch frischer? Ayses Blick fällt auf einen Mann, der neben ihr steht. Er sieht sich schuldbewusst um, stopft ein Päckchen mit Fisch in seine Tasche und verschwindet schnellstens wieder in der Menge. Die Salzländer wollen auf keinen Fall mit Runjifischen gesehen werden.
»Kann ich dir helfen?«, hört sie da eine Stimme von der anderen Seite des Tischs.
Ayse schreckt aus ihren Gedanken auf. »Oh … nein … danke schön. Ich schau nur mal.«
Die Frau von dem Marktstand zieht eine schlohweiße Augenbraue hoch.
Ayse lächelt unsicher. »Das sind aber schöne Fische.«
»Na, selbstverständlich.« Die Frau nickt. »Ich verkaufe nur beste Qualität.«
Einen lustigen Akzent hat sie, findet Ayse. Vielleicht sprechen die Runji untereinander eine eigene Sprache? Die Aussprache erinnert sie ein bisschen an ihren Vater, wenn er sich in einer ihm fremden Sprache abmüht.
Plötzlich gehen Ayse die vielen Menschen hier auf die Nerven. Mit großen Schritten stiefelt sie über den Kai und geht zielbewusst in die unbevölkerte Welt. Im Moment hat sie die Leute hier allesamt satt.
Im Supermarkt holt sie sich etwas zu trinken und ein Brot, das allmählich trocken und alt wird. Noch immer hat es in der unbewohnten Welt keine frische Lieferung gegeben. Auf der Terrasse der Herberge legt sie ihren Käse und das Brot auf einen Tisch, stellt die Flasche dazu und setzt sich behaglich in die Sonne. Sie macht sich nicht die Mühe, von drinnen ein Messer zu holen, sie beißt einfach abwechselnd von dem Käse und dem Brot ab. Es ist ja niemand da, den das stören könnte.
Und sie überlegt, was als Nächstes zu tun wäre. Ob Tio wohl unversehrt ist und vom Flussvolk gut behandelt wird? Mit gerunzelter Stirn kaut sie ihr Brot.
Im selben Moment probiert Tio vorsichtig einen Löffel von der Suppe, die ihm gebracht worden ist. Sie riecht nach Fisch. Tio ist eigentlich nicht besonders versessen auf Fisch, außer wenn er in mundgerechten Stücken frittiert ist; goldbraune Stückchen mit Soße, wie er es von der Wanderbühne her kennt. Doch der Geschmack dieser Suppe kann da gut mithalten. Sie ist salzig und scharf und erinnert ihn an etwas, das er einmal in einem indischen Restaurant gegessen hat.
Da kommt ein Junge in ungefähr seinem Alter herein und setzt sich zu ihm an den Tisch, als wären sie in einem gemütlichen Lokal. An Augenbrauen und Wimpern kann Tio sehen, dass der Junge weißblond ist wie alle Runji. »Schmeckt es?«, will der Junge wissen. Tio ist aufgefallen, dass nicht alle Runji zwei Sprachen sprechen, und wenn sie es tun, haben sie einen lustigen Akzent.
Tio nickt.
»Gut. Viele Salzländer mögen unsere Gerichte nicht besonders.«
»Ich bin kein Salzländer.« Wie oft muss er das wohl noch wiederholen?
»Und du willst immer noch nicht sagen, wo du dann herkommst?« Der Junge grinst und zuckt mit den Schultern. »Mir ist das egal. Du heißt Tio, richtig? Klingt wirklich nicht salzländisch. Ich bin Kivan, der Sohn von Maile.«
»Wer ist Maile?«, fragt Tio in aller Unschuld.
Der Junge ihm gegenüber schweigt und lächelt verblüfft. Dann fragt er: »Du weißt nicht, wer Maile ist? Sie ist die Bedeutendste.«
»Wieso? Von was?«
»Tja, wie soll ich das erklären … Die Bedeutendste ist diejenige, auf die gehört wird, die Anführerin im Kampf und diejenige, die alle wichtigen Entscheidungen trifft.«
»Eine Art Politikerin?«
Jetzt ist es Kivan, der verständnislos die Stirn runzelt. Das Wort Politikerin sagt ihm nichts. »Du hast sie gesehen. Sie hat dich aus dem Wasser gezogen.«
Tio versucht, sich die Frau wieder vor Augen zu rufen, die bloßen gebräunten und muskulösen Arme, die aus ihrer silbrigen Bluse ragten, die festen Stiefel an ihren Füßen, ihre Geschicklichkeit mit dem Bootshaken. »Meinst du mit Anführerin im Kampf, dass sie gut kämpfen kann?«
»Aber sicher! Du solltest ihr besser nicht als Feind gegenüberstehen. Aber es geht nicht immer darum, wer die Stärkste oder
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