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Zwischenwelten (German Edition)

Zwischenwelten (German Edition)

Titel: Zwischenwelten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mariëtte Aerts
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Aber was hat er dort zu suchen? Was soll er auf einem Anleger der Runji, wo dieselben Leute, die ihn gefangen genommen haben, ihrem Tagewerk nachgehen und ihn nur wieder am Kragen packen und ins Dorf zurückbefördern würden? Den Runji sollte er von jetzt an möglichst aus dem Weg gehen.
    Tio hatte gehofft, von dem Hügel aus irgendwo eine Brücke über den unruhigen Fluss zu entdecken, damit er nicht noch einmal schwimmen müsste. Doch das fahrende Volk hat offenbar keine Brücke nötig.
    Am ärgerlichsten ist aber, dass der Fluss genau an der Stelle, wo ihn Tio und Kivan durchquert haben, am schmalsten ist. Wenn er woanders durch den Fluss schwimmen will, muss er noch länger im Wasser bleiben als vorhin, und schon da ist es ihm schwergefallen. Würde er es schaffen, noch länger zu schwimmen? Das traut er sich eigentlich nicht zu. Es bleibt ihm wohl nichts anderes übrig, als ungefähr zu derselben Stelle zurückzuschwimmen. Vielleicht gelingt es ihm, ein Stückchen vom Dorf entfernt wieder aus dem Wasser zu steigen. Aber würden nicht Kivan und Hala am anderen Ufer auf der Lauer liegen?
    »Ich muss das am Abend machen«, sagt Tio sich, »wenn es dunkel ist. Dann hab ich die größte Chance.« Ihn graust es bei der Vorstellung, im Dunkeln in das Wasser des Flusses zu tauchen, das dann bestimmt tiefschwarz ist, aber ihm fällt keine andere Möglichkeit ein.
    Er geht zu dem hohen Schilfgürtel zurück, um sich bis zum Abend darin zu verstecken.
    Ayse sitzt auf der Kaimauer und lässt die Beine über dem Wasser baumeln. In das Butterbrotpapier in ihren Händen verpackt man hier in Sandelenbach frittierte Snacks. Langsam und genüsslich knabbert sie an großen, knusprig gebackenen Stücken Fisch. Sie hat das Gefühl, es wäre schon Tage her, seit sie etwas Warmes gegessen hat. Die Idee war ihr gekommen, als sie einsam in der leeren Herberge gesessen hatte: In der bewohnten Welt war heute Markttag, und auf Märkten gibt es normalerweise irgendwelche Imbissstände. Warum sollte das hier anders sein als zu Hause? Und ja, genau wie auf dem Samstagsmarkt, zu dem Ayse oft mit ihrem Vater geht, gibt es auch hier Stände, wo einem herrlich ungesunde Sachen heiß und tropfend aus dem Fett geschöpft werden, auf die dann ordentlich Salz gestreut wird, und dann wird man noch gefragt, ob man Soße dazu haben will. Ayse hat bei allem begierig genickt.
    Sie kleckert sich einen Schwapp Fett auf ihre Hemdbluse. Zum Glück sind es die Männer und Jungen, die in dieser Welt weiße Hemden tragen, denkt sie. Auf dem rotkohlfarbenen Hemd, das sie trägt, ist nach einigem Wischen und Rubbeln kaum noch was von dem Fett zu sehen.
    Ein Stückchen weiter lehnt ein junger Mann an der Kaimauer, und Ayse hat ein paar Mal mitbekommen, wie er in ihre Richtung geblickt hat. Zu ihr? Weil sie so kleckert? Oder ist vielleicht wieder eine Strähne ihrer langen braunen Haare unter der Mütze hervorgerutscht? Sie wirft ihm einen eisigen Blick zu. »Kümmer dich um deinen eigenen Kram«, murmelt sie so leise, dass es niemand hören kann. Ist das hier vielleicht ein Land, in dem Mädchen mit zwölf das heiratsfähige Alter erreicht haben, Familien sich Heiratsversprechen geben, Männer um die Hand eines Mädchens anhalten können, wenn es noch mit Puppen spielt? Geben die Salzländer ihre Töchter so früh aus dem Haus? Der Typ mustert sie auffällig interessiert.
    Unbehaglich schiebt sich Ayse ein Stückchen weiter von ihm weg. Oder ist der junge Mann vielleicht eine Art Polizist, ein Detektiv, jemand, der gehört hat, dass sie nicht aus dieser Gegend kommt, und wissen will, was sie hier treibt? Schnell stopft sich Ayse die letzten Bissen in den Mund, zerknautscht das Papier und schmeißt es in einen schwarzen eisernen Papierkorb. Lässig wischt sie sich die Hände an ihren Klamotten ab und schlendert in Richtung Markt. Als sie am ersten Stand vorbei ist, blickt sie sich unauffällig um. Ja, der Junge ist ihr gefolgt. Hat er sie über die Treppe kommen sehen, ist er vielleicht auf ihrer Spur? Hat er gesehen, wie sie aus einer anderen Welt in seine getreten ist? Aber das Mädchen, das sie getroffen haben, hat doch gesagt, dass die Bewohner hier das nicht bemerken.
    Ayse tut so, als würde sie sich die verschiedenen Waren ansehen, die an den Ständen angeboten werden: Stoffballen in dunklen Farben, frische Fische, Gemüse, das sie nicht kennt. Vierkantige Seifenklötze und Töpfe mit fremden Kräutern. Käse. Ayse blickt hoch. Käse und Gänseeier: Thorpa!

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