Zwischenwelten (German Edition)
gesprochen hat. Sie spürt, wie Tio sie am Ärmel ihrer Bluse zieht.
»Ich denke, wir müssen jetzt gehen. Sonst kommen wir zu spät«, sagt er leise.
Beinahe hätte Ayse gefragt: »Zu spät wohin?«, aber dann sieht sie Tios Blick. Sie versteht, er will hier einfach nur weg. Sie nickt. »Also, vielleicht bis später mal.«
»Bis später«, ruft Sirje. »Kommt ihr wieder? Und wann kann ich mir die Zaubervorstellung ansehen?«
»Bald«, verspricht Ayse ihr und hat sofort genauso ein schlechtes Gewissen wie beim letzten Mal Tio, als er sein falsches Versprechen gegeben hat.
Sobald sie außer Hörweite sind, fangen sie gleichzeitig an zu reden.
»Wie ist das möglich? Es kann nicht stimmen.«
»Ich begreif es nicht. Du etwa?«
Ayse kaut ein Weilchen auf ihrer Backe, während sie tief in Gedanken versunken weiterschlendert. »Da gehen zwei Zeiten durcheinander«, ist ihre vorläufige Schlussfolgerung. »Wenn du die Häuser und die Scheunen anguckst, ist klar, dass unzählige Jahre vergangen sein müssen. Allein schon der Baum, der durch das alte Haus gewachsen ist – wie lange braucht ein Baum, um so groß zu werden? Aber die Menschen, die dort wohnen, sind noch genau dieselben.«
»Oder ist es vielleicht nur dieselbe Familie?«, schlägt Tio vor, sagt aber gleich darauf selbst mit einem Kopfschütteln: »Nein, eine Familie, in der die Menschen sich dermaßen ähnlich sehen, das kann es eigentlich nicht geben. Außerdem haben sie dieselben Namen, das ist auch merkwürdig. Ich meine, natürlich gibt es bestimmte Namen in einer Familie. Mein Großvater hieß auch Philip, genau wie mein Vater, aber Sirpa, die Sirpa total ähnelt, und Sirje, die der vorherigen Sirje gleicht wie ein Wassertropfen dem anderen … das ist irgendwie unheimlich.«
»Unheimlich? Nein.« Da ist Ayse anderer Meinung. »Nein, einfach merkwürdig.«
Sie kommen an einem schiefen, rostigen Ortsschild aus Metall vorbei, das neben dem Weg auf dem Randstreifen steht.
SANDBACH lesen sie.
»Oh«, sagt Ayse und bleibt stehen. »Manche Namen haben sich auch verändert. Die Stadt hieß doch Sandelenbach. Schade. Ich finde den alten Namen viel schöner.«
Tio nickt. »Vornehmer.«
»Vielleicht war das Städtchen früher auch schöner«, murmelt Ayse und schaudert. »Ich glaube, ich hab ein bisschen Angst davor zu sehen, was davon übrig geblieben ist.«
»Nach dem Durcheinander im Hafen?«
»Ich fürchte das Schlimmste.«
»Willst du noch?«, fragt Ayse und hält Tio einen großen Becher Eis unter die Nase.
»Ich kann nicht mehr.« Tio seufzt.
»Was für ein Glück, dass sich in der unbewohnten Welt manche Dinge noch nicht verändert haben«, sagt Ayse und späht in den fast leer gelöffelten Becher Rumbaeis. »Ich bin froh, dass sie zumindest dieses unglaublich gute Eis noch immer verkaufen. Aber sonst war der Laden schon ein bisschen wüst. Ist dir das auch aufgefallen? In den Regalen steht viel weniger, und in der Gemüseabteilung gibt es gar nichts!«
Es gibt noch immer Geschäfte im leeren Sandbach. In der unbevölkerten Stadt ist alles genauso wie im bewohnten Sandbach, und so wirkt der Supermarkt in beiden Orten gleich schlecht bestückt und schäbig.
Das unbewohnte Sandbach ist nicht mehr dasselbe wie das unbewohnte Sandelenbach, das Tio und Ayse in Erinnerung haben. In Sandbach stehen die Ruinen an genau derselben Stelle wie in der bewohnten Spiegelstadt, und es ist eigenartig genug zu sehen, dass es auch restaurierte Gebäude gibt. Tio und Ayse fragen sich, wer sie in einer unbewohnten Welt restauriert haben mag.
Die unbewohnte Stadt ist weiterhin schlichtweg eine genaue Kopie der bewohnten – nur ohne Menschen. Aber Ayse und Tio sehen nicht mehr die Stadt, die sie gekannt haben. Das ehemalige Sandelenbach ist dem heutigen Sandbach gewichen, bewohnt und unbewohnt.
Über ihren Hemden tragen Tio und Ayse nun eine Art Jacke aus einem dicken grauen Stoff, der sich rau anfühlt. Da, wo der Stoff die Haut berührt, an den Handgelenken und im Nacken, kratzen sie ein bisschen, aber solche Jacken trägt man hier wohl, wenn es kälter wird, und kein Geschäft hat anschmiegsamere Stoffe im Sortiment. Es gab also nicht viel zu wählen.
Tio weigert sich, die Runjihose auszuziehen. Aus einer plötzlichen Gefühlsregung heraus möchte er sich noch ein wenig mit dem Volk des Mädchens verbunden fühlen, das so freundlich zu ihm war. »Dann laufe ich halt ein bisschen lächerlich rum«, beschließt er stur.
»Das musst du selbst wissen«,
Weitere Kostenlose Bücher