Zwölf im Netz
sein, daß ihn weder Wasser noch Wind, noch die Schreie weckten. Schon schlugen die ersten Brecher ins Boot; Levi versuchte mit seinem ledernen Umhang Jesus zu schützen, umsonst, genauso umsonst wie Andreas sich bemühte, das eingedrungene Wasser mit dem Eimer über Bord zu schwappen — die nächste Woge klatschte ihnen die doppelte Menge ins Boot. Und der Meister schlief.
Philipps Ruder brach. Höhnisch packte die entfesselte See das Ruderblatt und schleuderte es fort. Ihm blieb der Stumpf der Ruderstange. Sollte er damit auf die Wogen eindreschen? Lächerlich! Er gab auf, preßte die Hände vors Gesicht und bettelte: »Noch nicht sterben, Gott, jetzt noch nicht!« Und da, als das Boot hochgeworfen wurde, um in ein gefährliches Wellenloch abzustürzen, entrang sich seiner Brust der gellende Schrei: »Meister, hilf! Wir gehen zugrunde.«
Was diesem Schrei folgte, wird keiner je vergessen: Jesus erhob sich ohne jede Spur von Angst, trotz des schwappenden Wassers zu seinen Füßen, trotz des schwankenden Bootes, trotz der schwarzen Welle, die zum Sprung ansetzte, streckte gebieterisch die Hand aus gegen den Sturm und hieß ihn schweigen. Das Tosen ebbte ab, die aufgepeitschten Wellen glätteten sich, und es trat Stille ein.
Die Jünger waren erschüttert, eben noch in Todesgefahr, jetzt durch ein Wort wunderbar gerettet. Philipp brach in Tränen aus, wäre am liebsten in das Boot des Meisters gesprungen, um ihn zu umarmen. Doch der Abstand war zu groß.
Und der Abstand wurde zum Abgrund, als Jesus sie mit strenger Stimme ansprach: »Warum wart ihr denn so ängstlich? Habt ihr noch immer kein Vertrauen zu mir?«
Doch, doch, wollten sie hastig beteuern, aber sie brachten kein Wort über die Lippen. Wie fremd er wirkte, gar nicht der Freund, dem sie brüderlich den Arm auf die Schulter gelegt, mit dem sie gesungen und gescherzt, halb Galiläa durchwandert und ganze Nächte durchwacht hatten.
Wer war dieser Jesus, daß ihm sogar Wind und Wellen gehorchten?
Die Süßwassermatrosen
(Brief des Judas an seinen Freund Dan in Jerusalem)
Es geht nicht voran, es geht nicht voran.
Warum verfolgte Jesus seine klare Linie nicht weiter? Das Reich Gottes war doch greifbar nahe. Nun habe ich manchmal das Gefühl, er halte es selber auf. Was soll es für einen Sinn haben, bei den Heiden das Reich Gottes zu verkünden, bevor es in Jerusalem errichtet wird? Heilte er da nicht neulich den Knecht eines römischen Hauptmanns! Unser Ex-Zelot Simon hat dieses Wunder bis heute nicht verdaut, für ihn grenzt es fast an Landesverrat. Und die Heilung der Phönizierin, als er in die Gegend von Tyrus und Sidon zog. Was trieb ihn überhaupt außerhalb der Landesgrenzen? Bezeichnenderweise nahm er uns nicht mit auf diese Wanderung. Ich sehe dich die Stirn runzeln, ich habe es auch getan. Wie gesagt, er droht sich zu verzetteln. Vielleicht sind es nur unvermeidliche Verschleißerscheinungen. Auch ein kerngesunder Mann wie Jesus bleibt von Ermüdung und Erschöpfung nicht verschont; das unruhige Wanderleben — sein Zimmer in Kapharnaum hat er wieder aufgegeben — , der Erwartungsdruck der Öffentlichkeit, der oft rücksichtslose Andrang der Heilungsuchenden, die ihm keine ruhige Stunde gönnen, der zermürbende Kleinkrieg mit den hierzulande leider sehr kleinkarierten und mißgünstigen Pharisäern — nur ein Gott könnte das unbeschädigt überstehen. Eine gewisse Mitschuld trifft auch Galiläa, diese idyllische, harmlose Bilderbuchlandschaft mit ihren weichen Konturen, rundlichen Hügeln, sauberen Dörfern, wohlbestellten Feldern und verträumten Gärten. Das alles ist ihm ans Herz gewachsen, ist seine Heimat, die Leute sprechen seinen Dialekt, seine Mutter wohnt dort, seine Freunde. Trotzdem, diese galiläische Nestwärme verweichlicht ihn ; was er braucht, ist das scharfe Reizklima, wie es nur Jerusalem zu bieten hat — in jeder Hinsicht. Nur dort findet er die ebenbürtigen Gegner. Nur in der Auseinandersetzung mit ihnen kann er anwachsen zur Unüberwindlichkeit. Er scheint das zu ahnen. Immer öfter deutet er an ; daß er nach Jerusalem aufbrechen will, spätestens vor dem Paschafest. Darum ist es nötig, entsprechende Vorbereitungen zu treffen. Er schickt bestimmt einige von uns Jüngern voraus. Aber die meisten sind bestenfalls dazu fähig, in den Herbergen Quartier zu buchen. Sie sind ja herzensgute Kerle, vermutlich intelligenter, als sie scheinen, wenn auch kaum so intelligent, wie sich manche selbst einschätzen. Von
Weitere Kostenlose Bücher