Zwölf im Netz
glaube, Poly? Jesus liebte mich nicht nur als Freund wie alle zwölf, er liebte mich als seinen jüngeren Bruder. Ich sollte der Sohn seiner Mutter werden, die größte Auszeichnung, die er zu vergeben hatte.«
Poly hielt den Atem an ; außer dem Knistern der brennenden Äste war nichts zu hören. Es drängte ihn, Fragen über Fragen zu stellen,- doch er spürte, es sei besser, schweigend zu warten. Johannes würde von selber anfangen, die seltsame Behauptung auszudeuten.
Und Johannes begann, die Hände ineinander wie zum Gebet verschränkt. »Erinnerst du dich noch des Kapitels über die Verklärung? Du zeigtest dich beim Diktieren nicht besonders aufgeregt. Eurer griechischen Tradition sind solche Apotheosen nicht fremd, sagtest du damals. Mag sein. Uns, Petrus, meinen Bruder und mich hatte die gewaltige Lichtvision völlig aus der Fassung gebracht. Stell dir vor, Poly: Jesus, unser Freund und Meister, mit dem wir Glück und Unglück teilten, den wir wie einen Bruder zu kennen glaubten, der war plötzlich nicht wiederzuerkennen. Sein Gesicht leuchtete wie die Sonne, und die Strahlen dieser Sonne trafen uns mit voller Gewalt, wir stürzten auf den Boden und waren wie gelähmt. Und dazu die Stimme von oben: >Dies ist mein geliebter Sohn!< Niemals in meinem Leben war ich so von Furcht und Freude gepackt, doch die Furcht verschwand, als eine Hand mich anfaßte und es die vertraute Hand Jesu war.
Sohn Gottes — ich glaubte es nicht. Es stand in schreiendem Widerspruch zu unserer Religion. Es stand auch in Widerspruch zu den Naturgesetzen. Zeugung und Geburt nehmen ihren Weg nach festen Regeln, von Gott selber vorgezeichnet.«
»Eben«, sagte Poly gleichmütig, »darum hätte mich das alles gar nicht umgeworfen.«
»Weil ihr Griechen das gewohnt seid. Weil es in euren Mythen von Göttersöhnen und Göttertöchtern nur so wimmelt.«
»Nein, weil Gott die Welt aus dem Nichts erschuf. Verglichen damit ist die Erschaffung eines Menschen doch ein Kinderspiel. Wer Gesetze erläßt, darf sich Ausnahmen von der Regel erlauben. Das haben wir sogar in der Schule gelernt. Und außerdem sprang Jesus bei seinen Wundern oft genug über scheinbar unabänderliche Naturgesetze hinweg.«
»Meine Phantasie war leider nicht so beweglich wie deine, Poly, vielleicht war auch die Denkschulung mangelhaft gewesen, jedenfalls zermarterte ich mir den Kopf wegen dieser Vaterschaft. Ich mußte Klarheit gewinnen, koste es, was es wolle.«
»Ich hätte halt seine Mutter gefragt«, sagte Poly, »die muß es doch wissen.«
»Genau das habe ich ja getan.« Johannes warfroh, dem unkomplizierten Knaben diese Antwort geben zu können. »Nach Nazareth brauchte ein geübter Wanderer höchstens sechs Stunden. Am Morgen war ich dort. Die Nazarener genierten sich bekanntlich ihres größten Sohnes, aber sein Elternhaus zeigten sie mir nicht ohne Stolz.
Kurz vor der Tür verließ mich die Courage. Was wird seine Mutter von einem jungen Kerl halten, der sie mit der Frage überfällt: Gestehen Sie, wer ist der Vater Ihres Sohnes? Ich kannte sie kaum, hatte sie auf der Hochzeit von Kana nur flüchtig kennengelernt. Die Tür war angelehnt, doch sie selbst war nicht zu Hause. War beim Bäcker oder am Brunnen. Trotzdem wagte ich einen Schritt in die Wohnung hinein und sah mich um. Hier also hat er seine Kindheit und Jugend verbracht, gespielt, gelacht, gebetet, geweint, geschlafen, gegessen, hat er die Masern, die Trotzphase, den Stimmbruch und die Weisheitszähne bekommen, hier hat er der Mutter aus der Schule erzählt und nebenan in der Werkstatt gearbeitet...«
»... und in den Räumen schwebte Weihrauchduft, und Engelchen lugten vom Dachgebälk hernieder.«
»Respektloser Knabe!« Johannes drohte ihm mit dem Finger. »Nein, es war ein Haus wie hundert andere in Nazareth, und seine Kinderjahre verliefen ohne jeden wunderbaren Vorfall.«
»Schade um die schönen Legenden«, sagte Poly mit komischer Betrübnis. »Zum Beispiel, daß seine Windeln stets blütenweiß waren, daß er mit Bauklötzchen nur Altäre errichtete, daß sich das Öl in den Lampen stets von selbst erneuerte und leibhaftige Engel Heinzelmännchen spielten.«
»Erzählt man sich das schon?«
»Noch viel Schlimmeres. Aber erzählen Sie jetzt weiter. Ich unterbreche Sie bestimmt nicht mehr.«
»Maria erschrak keineswegs, weil sie einen Fremden in der Wohnung vorfand. Sie ließ mich Platz nehmen und fragte nach ihrem Sohn. Ich berichtete alles mögliche, was mir gerade einfiel — um
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