Zwölf im Netz
zurückzuschlagen, nicht zu begehren, die Feinde zu lieben. Aber wenn Gott mit uns ist und wir mit Gott, dann ist es nicht schwer, seine Gebote zu halten. Habt ihr schon wieder vergessen, wozu wir berufen und auserwählt sind? Wir sind das Salz der Erde, wir sind das Licht der Welt. Wir dürfen fröhlich sein, wenn wir fasten, und müssen uns nicht entstellen, um fromm zu erscheinen. Wir brauchen keine Angst vor Dieben zu haben, weil unser Schatz im Himmel gesammelt wird. Wir brauchen uns nicht abends hinzusetzen und auszurechnen, was wir essen werden, was wir trinken werden, womit wir uns kleiden werden — wir dürfen leben wie Lilien des Feldes, wie die Vögel des Himmels. Wir müssen nur eines: zuerst das Reich Gottes suchen. Und das wollen wir doch alle, oder nicht?«
»Jeder«, erwiderte Thomas. »Keiner von uns hat vergessen, was du aufgezählt hast. Alle diese Worte sind nicht nur ins Ohr, sie sind uns auch ins Herz gedrungen. Aber im selben Herzen nisten auch unsere Erfahrungen, die das verheißungsvolle Wort nicht ganz übertönen kann. Johannes, du bist erst siebzehn Jahre alt. Du hast keine persönlichen Feinde, niemand verfolgt und haßt dich; in einen Prozeß warst du auch nicht verwickelt. Auf die Backe wagt nicht einmal Zebedäus dich zu schlagen; für jeden gestohlenen Rock kauft dir die Mutter zwei neue ; dem Mammon dienen kommt für dich nicht in Frage, weil dich dein Vater knapp bei Kasse hält; die Weiber drehen sich zwar nach dir um, aber du noch nicht nach den Weibern.«
»Kommt alles noch«, warf Philipp ein, und Jakob sprach feierlich: »Selig die Siebzehnjährigen, denn sie wissen noch nicht, was das Leben für sie bereithält.«
»Jakob hat recht«, fuhr Thomas fort. »Warte fünf, sechs Jahre, und du hast einen Feind, der jede Versöhnung ablehnt, und du brauchst Geld für deine Familie, möglichst viel, und eine hübschere Frau als deine läuft dir erst über den Weg und dann in die Arme, und du mußt dich verstellen, um deinen Ruf nicht zu verlieren. Sprichst du dann auch noch so begeistert wie heute?«
Alle blickten gespannt auf Johannes, doch die Antwort kam nicht von ihm, sie kam von Simon Petrus. »Ja«, sagte er, »er wird immer so sprechen; er besitzt das reine Herz, das Jesus seligpreist. Und darum liebt er ihn mehr als alle anderen.« Niemand sagte etwas darauf; jeder spürte, wie schwer es Simon Petrus fiel, das auszusprechen, Simon Petrus, der sich in seiner Treue zu Jesus von keinem übertreffen ließ.
Da rief Jakob plötzlich: »Selig hin, selig her — schaut mal zum Himmel, Männer. Selig, wer sich dem Sturm entgegenstemmt, er wird später ersaufen als alle anderen. Legt euch in die Riemen, mit aller Kraft voraus!«
Sie hatten tatsächlich über ihren Wortgefechten übersehen, was sich da zusammenbraute. Einen Wolfssturm nannten sie das, wenn über dem Bergland, das den See umschloß, scheinbar harmlose Wolken aufstiegen, die sich dann plötzlich, als würden sie vom Wasser angezogen, tückisch über dem See zusammenballten und ihn in einen Hexenkessel verwandelten. Wehe dem Fischerboot, das in das Zentrum eines solchen Sturmes geriet.
»Sollen wir den Meister wecken?« fragte Andreas.
»Lieber nicht«, riet Simon Petrus. »Laßt ihn schlafen. Helfen kann er uns sowieso nicht. Komm, schnell in unser Boot.« Andreas und Simon kletterten in das Boot, in dem Jesus schlief, Philipp, Natanael, Simon und Thomas in das ihre, dann lösten sie die Boote, die zusammengebunden waren, und ruderten mit aller Kraft, um Abstand voneinander zu gewinnen, damit der Sturm sie nicht zusammenschlage. Es war höchste Zeit. Immer wilder tanzten die Wellen, immer höher spritzten die Schaumkronen empor, bald würden sie sich zu riesigen Wogen auftürmen und über die Boote hinwegrollen.
»Querhalten!« schrie Jakob. Doch wie kann man querhalten, wie steuern, wenn die Wellen von allen Seiten anbranden und aufwirbeln, als würden sie von dämonischen Kräften hochgerissen? Aber sie kämpften, Simon Petrus und Andreas, Jakob und Johannes, Thomas, Natanael, Philipp und der Zelot — jeder in seinem Boot, jeder mit letztem Einsatz, kämpften sie um ihr und um des Meisters Leben. Jetzt hätte er sie erleben sollen, sie, die er oft getadelt hatte wegen ihrer Unreife, ihres Leichtsinns, ihrer Verzagtheit; jetzt hätte er seine helle Freude daran gehabt, wie alle ihre Streitigkeiten weggeblasen waren und ein Wille sie beseelte. Aber er schlief. Der Meister schlief. Der mußte zu Tode erschöpft
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