Zwölf im Netz
die entscheidende Frage noch hinauszuschieben. Sie spürte, daß ich etwas auf dem Herzen hatte. Endlich wagte ich meine Frage zu stellen: Sagen Sie mir bitte, wer ist sein Vater? Gott, gab sie zur Antwort. Einfach: Gott. Poly, ich hätte jeder anderen Frau einen Termin beim Psychiater vermittelt, aber dem Glauben dieser Frau gegenüber gibt es keine Gegenwehr. Sie ruht so fest in ihrer Gewißheit, daß alles andere daneben in Ungewißheit verblaßt. Ich wagte noch eine Frage: Hat Jesus das gewußt? Sie sagte: Ja, späte-stens seit seinem 12. Lebensjahr. Und dann gab sie mir ein Geheimnis preis, das sie fast zwanzig Jahre lang im Herzen bewahrt hatte. Jesus war auf der Heimreise von Jerusalem verschwunden. Sie suchten ihn und fanden ihn nach drei Tagen im Tempel. Und wie sie ihm deswegen Vorwürfe machten, gab er den Vorwurf zurück und sagte: Wißt ihr nicht, daß ich im Hause meines Vaters sein mußt Im Hause meines Vaters — damit war der Tempel gemeint. Und der gehörte gewiß nicht dem Zimmermann Joseph aus Nazareth. Ich blieb noch bis Mittag bei ihr und verstand mich weit besser mit ihr als mit der eigenen Mutter. Jesus muß das erkannt haben, obwohl ich nie darüber sprach, und so vertraute er mir unter dem Kreuz seine Mutter an und mich ihr als Sohn an seiner Statt.«
»Dem Liebsten das Liebste«, sagte Poly, ohne jede Ironie. »Sie nahmen Maria auch später nach Ephesus mit und wohnten mit ihr zusammen bis zu ihrem Ende. Ich kenne übrigens das Haus auf dem Nachtigallenberg. Wenn Sie noch einmal hinauf wollen, ich besorge Ihnen ein Fahrzeug.«
»Ist schon gut, Poly«, sagte Johannes, den die Erinnerung mehr ergriffen hatte, als er sich eingestand, »aber zunächst besorge mir eine Decke aus der Hütte und leg sie mir um. Die Nacht ist kalt, und meine Knochen sind morsch. Und für dich zwei, wenn du schlafen willst.«
»Dafür bleiben mir noch tausend Nächte, Johannes.«
Stiefel und Schwert
Für den Marsch nach Jerusalem und die Verpflichtungen, die dort auf ihn warteten, brauchte Philipp unbedingt festes Schuhwerk. Die ausgelatschten Kommißstiefel, die ihm der Zelot überlassen hatte, flößten ihm kein Vertrauen ein. Die Sohlen schlappten, auch Nageln half da nichts mehr ; sie würden unterwegs den Heldentod sterben. Philipp wandte sich an den Kassenwart, und Judas hatte Verständnis für wunde Füße.
Mit 20 Silberlingen ausgerüstet begab sich Philipp in ein Schuhgeschäft in Tiberias, das er — Ladenmädchen inklusive — aus früheren Tagen kannte. Diese Ladenmädchen waren inzwischen längst weggeheiratet worden; es bediente ein neues, aber, welch ein Glück, auch das war ihm nicht unbekannt.
»Nein, diese Überraschung!« rief er munter. »Unsere kurzangebundene Schönheit Veronika! Was tust denn du in diesem Geschäft?«
»Geld verdienen«, gab Veronika unwirsch zur Antwort. »Ausgerechnet in Tiberias. Ein gefährliches Pflaster, auf dem kleine Mädchen schnell ausrutschen können.«
»Dagegen weiß ich ein gutes Mittel, mein Herr: Profil, Sohlen mit Profil.«
Philipp stutzte einen Augenblick. Was meinte sie damit? Doch schlagfertig sagte er: »Genau solche brauche ich. Wasserfeste Stiefel mit dicken Sohlen. Sie sollen aber nicht jeder Eleganz entbehren.«
»Wie Sie wünschen, mein Herr ; nehmen Sie dort Platz!« Sie wies zum Regal für Herrenschuhe.
Er faßte sie am Handgelenk: »He, warum so förmlich? Kennst du mich nicht mehr?«
Sie riß sich los. »Freilich kenne ich Sie: Philipp aus Betsaida, einstmals Mitglied der Gesellschaft Jesu.«
»Einstmals? Ich gehöre noch immer dazu.«
Ihre abweisende Miene hellte sich auf, aber noch nicht ganz. »Was tun Sie dann in Tiberias, Philipp?«
»Stiefel kaufen. Muß ich das dreimal sagen? Der Meister hat mir sozusagen Kurzurlaub erteilt. Heute abend treffen wir uns alle zur Abschiedsmahlzeit bei Zebedäus. Komm doch mit!«
»Gott sei Dank«, sagte das Mädchen mit tiefem Aufatmen, »ich hatte schon Angst, du seist ihm weggelaufen wie so viele andere. Aber nun mußt du mir viel erzählen. Wir probieren dabei ein Paar Stiefel ums andere an, damit die Chefin nicht merkt, daß wir uns bloß unterhalten, wenn sie hereinschaut. Die ist absolut streng.« Gesagt, getan. Veronika hatte tausend Fragen. Den ganzen Winter über hatte sie keine einzige Predigt des Meisters hören können,-nach Tiberias kam er nicht, und sie hatte nicht genügend freie Zeit, um bis Kapharnaum oder Magdala zu laufen, auch keine Kraft mehr nach dem anstrengenden
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