Zwoelf Schritte
Treppenhaus, die Treppe hoch und in Fríðas Wohnung. «Nicht immer kommen die Verdächtigen selbst zum Tatort und stellen sich», ruft er Iðunn zu, die in den Flur tritt, weiß im Gesicht, mit zusammengepresstem Kiefer.
«Was zum Teufel machst du hier?», zischt sie mich an.
«Ich wollte nur bei Fríða vorbeigucken …», sage ich, «… und dann sah ich die Polizeiwagen und Njörður vor dem Haus, sodass …»
«Wann hast du sie zuletzt gesehen?», brüllt Iðunn. Sie hat mich noch nie so angebrüllt. Nicht einmal, als wir uns sehr heftig gestritten haben. Ich muss einen dicken Kloß im Hals hinunterschlucken, bevor ich antworten kann.
«Vorgestern», murmele ich.
«Wann vorgestern?», schreit Iðunn zurück.
«Nachmittags, ich weiß nicht die genaue Uhrzeit, ich bin vielleicht so kurz vor dem Abendessen gegangen.» Njörður steht daneben und notiert etwas in seinem kleinen Schreibblock, der zur Standardausrüstung aller Kriminalpolizisten zu gehören scheint, aber in seinen trollartigen Schaufeln verschwindet, sodass es aus meiner Perspektive aussieht, als würde er etwas auf seine Handfläche kritzeln.
«Und hast du sie gebumst?», zischt Iðunn etwas leiser.
«Ja», antworte ich, auch wenn ich es nicht so bezeichnen möchte. «Was ist mit Fríða passiert?»
«Sie ist auf schreckliche Weise angegriffen worden», antwortet Iðunn. «Wahrscheinlich wollte man sie umbringen, und es nicht sicher, ob sie überleben wird. Es scheint aber die gleiche Handschrift wie bei den anderen Fällen zu sein. Deshalb sind wir hier, auch wenn es kein Mord ist – noch nicht. Sie kam ganz offensichtlich nicht schnell genug mit den Schritten voran.» Iðunn dreht sich auf dem Absatz um, geht wieder ins Schlafzimmer zurück und gibt mir ein Zeichen, ihr zu folgen. Fríða wurde offenkundig im Bett misshandelt, denn eine Polizistin im weißen Overall packt gerade das blutige Bettzeug zusammen und steckt es in einen Plastiksack, den sie versiegelt. Die minzgrüne Holzverkleidung in der Dachschräge ist komplett mit schwarzem Filzstift vollgekritzelt. Ich kneife die Augen zusammen, um die Wörter zu erkennen, aber die Schrift ist klein, und ich rühre mich nicht von dem Fleck weg, wo ich auf Iðunns Anordnung stehen darf.
«Hier hat Fríða all ihre Missetaten aufgelistet, wie man es im achten Schritt machen soll, das heißt das, was sie ihrer Ansicht nach anderen gegenüber falsch gemacht hat und was ihr Schuldgefühle bereitete. Das ist alles recht schillernd und wäre interessant für dich gewesen zu wissen, bevor du sie gebumst hast, zum Beispiel hier:
Tommi mit Chlamydien angesteckt und ihm nicht Bescheid gesagt
. Oder:
Lehnte es ab, Anyja zu helfen, als sie mit dem Nackttanz aufhören wollte
. Und dann, urkomisch:
Habe dem alten Botschafter für den Blowjob immer zu viel abgeknöpft, obwohl er nett zu mir war
. Und dann will ich dir das Neueste vorlesen, was auch unser größtes Interesse weckte:
Habe mit Magni geschlafen, ohne es wirklich zu wollen. Habe ihn danach rausgeschmissen, und ich glaube, das hat ihn verletzt
.» Iðunn ist so wütend, dass ihre Stimme ein klein wenig zittert.
«Jetzt erzähl uns mal, wie sehr es dich verletzte, Magni», höre ich Njörðurs Stimme hinter mir, er steht in der Schlafzimmertür. «Vielleicht so sehr, dass du versucht hast, sie umzubringen?»
«Spielt euch nicht so auf», sage ich. Mir wird schwindlig, und in meinem Kopf geht alles durcheinander. Ich hätte nicht das verfluchte Bier wegwerfen sollen. Die weißgekleidete Polizistin drängt sich mit dem Bettzeug im Plastiksack an mir vorbei. Es ist so blutig, dass mehr Rot als Weiß durch das Plastik zu sehen ist.
«Es hat wenig Sinn, so zu tun, als sei nichts geschehen. Ich nehme an, dass man bei der DNA -Analyse deine Spuren in dem Bettzeug finden wird, oder?»
«Wohl schon», sage ich, und der Ernst der Lage wird mir schlagartig klar. Es ist wahrscheinlich besser, mich zurückzuhalten und nüchtern zu werden, bevor ich mich darüber aufrege, dass sie sich erdreisten, mich zu verdächtigen. So richtig ist das Ganze noch nicht in mein Bewusstsein gedrungen.
«Was hat man ihr angetan?», frage ich Iðunn und schaue sie bittend an. Sie erwidert meinen Blick. Ein Mundwinkel zuckt leicht, und sie hat müde Augen.
«Soll das heißen, du weißt es nicht?», sagt Njörður mit scharfer Stimme. Ich würdige ihn keines Blickes.
«Es ist besser für dich, wenn du es nicht vor dem Verhör erfährst.» Entweder spielen sie
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