Zwölf um ein Bett
meisten Menschen nicht merken, wie schrecklich dir zumute sein muß; aber ich weiß, wie traurig das ist, besonders, weil du noch so jung bist.«
»Ich bin gar nicht so jung«, sagte Oliver, »aber ich nehme an, dir muß es so vorkommen.« Noch eine ganze Weile, nachdem sie gegangen war, strahlte er vor Zufriedenheit, die treffendste Bemerkung gefunden zu haben; nur war sie ihm eine halbe Stunde zu spät eingefallen.
Am Sonntagmorgen goß es wieder in Strömen, und Evelyn kämpfte einen Kampf mit ihrer Tante, ob sie im Regenmantel reiten sollte oder nicht. Ihr verzweifeltes Gesicht mit Strähnen von nassem, rotem Haar zeigte sich an Olivers Fenster, als er gerade seinen Lunch aß. Man hatte ihn den Vormittag über im Bett liegenlassen, als Vorsichtsmaßregel gegen die Anstrengungen eines geselligen Nachmittags.
»Onkel Ollie«, rief Evelyn, und ihr Gesicht war naß von Regen oder von Tränen. »Ich kann nicht, ich kann nicht.«
»Hab’ ich noch nicht oft von dir gehört«, sagte Oliver mit vollem Mund. »Ma erklärt immer, du denkst, du könntest alles. Was kannst du denn nicht?«
»In diesem schrecklichen Schulregenmantel reiten. Sie sagt, ich muß, aber er hat keinen Schlitz hinten und ist viel zu lang, und Daddy hat mal gesagt, ich sähe wie ein Waisenkind darin aus. Ich kann ihn nicht anziehen. Wozu ist denn das neue Reitjackett da? Ich werde schon nicht naß werden; man wird nicht naß, wenn man sich bewegt. Ach, sprich du doch mit ihr und krieg sie herum, daß ich ihn nicht anzuziehen brauche. Sie sagt, ich dürfte mir keine Erkältung holen, weil ich morgen reisen soll; aber mir ist es ganz egal, ob ich eine kriege. Es ist mir wirklich ganz egal, ob ich mir eine Erkältung hole und hinterher sterbe.«
»So beruhige dich doch«, sagte Oliver. »Ich werde sehen, was ich tun kann. Geh und iß deinen Lunch und sprich nicht mehr darüber; ich werde mit Ma reden.«
»Ach, Onkel Ollie, du bist ein ganz Lieber, ein Schatz bist du«, haspelte sie. »Ich liebe dich sehr. Wie soll ich das nur aushalten, wenn ich weggehe und dich hierlassen muß mit deinem armen Bein und all dem? Dann ist keiner mehr da, der auf dem Hügelfeld reitet, damit du es sehen kannst. Wirst du mir schreiben? Versprichst du’s? Aber vielleicht läßt sie’s mich gar nicht lesen; ich wette, sie wird all meine Briefe aufmachen und sie wegtun.«
»Wer ist >sie«
»Das weißt du doch ganz genau, spiel doch nicht Gouvernante. Sag mal, meinst du, es wird sich noch aufklären? Ja? Ich habe bestimmt eben ein winziges bißchen von einem blauen Himmel gesehen. Wie groß ist ein Holländer?«
»Evie«, rief Elisabeth, die mit Olivers Pudding ins Zimmer trat, »geh und iß deinen Lunch. Wir haben schon längst angefangen.«
»Ich kann nichts essen. Wie kann ich aber auch, wenn es mir immer schlecht wird, sobald ich an heute nachmittag denke?« Evelyn wunderte sich über eine so dumme Zumutung.
»Hier, und dann nimm den Biskuit und den Käse.« Oliver reichte es ihr aus dem Fenster.
»Schön, wenn du mir versprichst — du weißt schon.«
»Okay, okay, drängle nicht so. Ich habe doch gesagt, daß ich’s tun werde.« Sie schien winzig, wie sie da in dem zeltförmigen Regenmantel abzog und an dem durchweichten Biskuit knabberte.
Die Reitburschen und Kinder, die mit ihren Pferden im Laufe des Vormittags eingetroffen waren, stellten sich in den Gutsgebäuden unter. Aber nach dem Lunch nieselte es nur noch, dann fielen noch einige verwehte Tropfen, und als sich ein Wind erhob und die Wolken vertrieb, hörte der Regen ganz auf. Alle kamen wieder zum Vorschein und verteilten sich wie Pünktchen über das Hügelfeld. Als Elisabeth Oliver beim Anziehen half, kam Evelyn hereingestürzt. Sie war nicht wiederzuerkennen, so sauber sah sie aus in Bluse und Schlips, ihrer neuen lohbraunen Reitjacke und langen, enganliegenden Reithosen mit weitem Hosenboden, der ihre Beine wie Streichhölzer erscheinen ließ.
»Du mußt aber nicht so hereinstürmen, wenn dein Onkel angezogen wird«, sagte Elisabeth.
Evelyn beachtete sie gar nicht. »Onkel Ollie, ich glaube an Gott«, verkündete sie. »Nachdem du Tante Hattie gefragt hast und sie immer noch sagte, ich sollte, dachte ich, ich müßte mich umbringen. Dann fiel mir etwas ein, und ich lief in Dandys Stall und betete und betete, genau so wie das Mädchen in dem Buch, das betete, und das Brot war gebacken, nur daß ich darum betete, es möchte zu regnen aufhören. Und ich denke, ab heute werde
Weitere Kostenlose Bücher