Zwölf Wasser Zu den Anfängen
können, morgen, dachte er und massierte sich mit der Linken den Schwertarm, morgen. Ihm tat alles weh, er war vollkommen erschöpft, körperlich und seelisch. Er wollte ausruhen, aber er fürchtete sich vor dem, was er sehen würde, wenn er die Augen schloss. Er wollte nicht reden, es war unmöglich zu reden, denn dazu hätte er denken müssen. Wenn Felt aber denken würde, müsste er sich erinnern an das, was er gesehen hatte, als er dem Wolfgegenüberstand. Und das war heute noch unmöglicher als damals im Wald.
Aber es war genauso unmöglich zu schweigen. Felt war sich bewusst, wie erschüttert er war. So tief wie nie zuvor in seinem Leben. So tief, dass ein Teil seiner selbst sich von ihm abgewandt hatte, mit dem Rücken zu ihm stand und das Gesicht in den Händen verbarg. Er konnte nichts dagegen tun. Er musste sich mit der einen Hälfte begnügen, die in der Höhle saß – bei einem verletzten Mann.
Er warf einen Blick auf Wigo. Auch der schlief nicht. Er ruhte, halb sitzend, halb liegend, auf einem Bündel Decken und starrte ins Feuer.
»Wigo«, sagte Felt und bemühte sich um einen leichten Ton, »erzähl mir doch, wie Sardes Pram gerettet hat.«
»Sardes«, sagte Wigo, als hörte er den Namen zum ersten Mal. Dann sprang sein Geist zurück an die Stelle, an der sie unterbrochen worden waren – und übersprang dabei alles, was inzwischen geschehen war. Er erzählte, er flüchtete in die Erzählung wie ein Kind unter die Bettdecke.
»Sardes, Beschützer von Pram, Hüter der Quelle, erschien auf den Stufen des Palasts und schaute ins Chaos. Er stand ganz ruhig, in seiner glänzenden Rüstung spiegelten sich die Flammen. Ein erhabener Anblick, er war jünger, viel jünger als heute, seine Haare waren noch pechschwarz – sie waren immer pechschwarz gewesen und er war immer jung gewesen. Nun ja, nicht wirklich
jung
«, er lächelte Felt an, feine Schweißtröpfchen glitzerten auf seiner Oberlippe, »aber er hat gut ausgesehen, mit Sicherheit besser als du. Er schritt die Stufen hinab. Er zog sein Schwert, langsam. Vorsichtig setzte er die Schwertspitze aufs Pflaster, dann stützte er sich auf seine Waffe und schloss die Augen. Unbewegt, wie eine Statue, stand er da und um ihn herum tobten die Flammen und die glühenden Funken rolltendurch die Gassen, als hätten sie ein eigenes Bewusstsein, als wären es kleine, böse Tiere auf der Suche nach Beute. Und die fanden sie im Überfluss. Sie hüpften gegen hölzerne Türen, sprangen durch geöffnete Fenster und hängten sich in Vorhänge, Teppiche, Decken. Sie fanden jeden Spalt und jede Ritze und drangen in jedes Haus … Ich habe Durst.«
Felt reichte ihm einen Becher. Wigos Augen glänzten, Felt wollte gerade fragen, ob ihn das Erzählen zu sehr anstrengte, als Wigo weitersprach: »Aber dann kam das Wasser. Es quoll aus den Fugen zwischen den Pflastersteinen der Straßen, überall, in der ganzen Stadt. Und dann floss es die Stufen hinauf, die Mauern. Ja, du hast richtig gehört: Das Wasser floss die Wände hoch, in feinen Rinnsalen benetzte es jedes Gebäude, jede Säule, jeden Torbogen, es tropfte auf Zimmerdecken, durchtränkte Stoff, befeuchtete Holz. Es löschte die Brände, es floss immer höher, Stockwerk um Stockwerk trieb es die Funken vor sich her, die nirgendwo mehr Halt fanden, bis sich schließlich ein glühender Schauer in den Himmel über Pram entlud. Es war, als wäre die Welt auf den Kopf gestellt: Aus der hellen, heißen Wolke, die über der Stadt schwebte, fielen die Funken wie glühender Regen in den Nachthimmel, bis sie von den Sternen nicht mehr zu unterscheiden waren.«
Felt war irgendwann doch eingeschlafen, das Plätschern des Bachs und die Wärme des Feuers hatten ihm die Lider schwer gemacht. Er wachte auf, als Wigo nach ihm schlug. Nach einem kurzen, glücklichen Augenblick des Vergessens kam die Erinnerung an die Geschehnisse zurück und Felt richtete sich ruckartig auf. Reva stand still im Wasser und schaute ihn an – er glaubte es wenigstens, denn das Feuer war heruntergebrannt, es war dunkel in der Höhle. Wigo schlug wieder um sich, er träumte. Felt legte Holz nach. Wigos Stirn glänzte schweißnass.Er wischte mit der Hand darüber. Heiß. Jetzt war Felt hellwach – Fieber, das war nicht gut.
»Reva«, sagte Felt, »ich brauche mehr Licht.«
Sofort strahlte die weiße Flamme. Felt entfernte den Verband. Die Wundränder waren gerötet, die Wunde nässte. Felt legte die Fingerspitzen auf Wigos Hals,
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