Zwölf Wasser
Augen sahen mehr als die von Kersted.
»Ach, über mich selbst. Bei uns fällt um diese Zeit schon der erste Schnee. Ich habe das eigentlich immer gehasst, aber nun …«
»Nun vermisst du es. Vermisst deine Heimat.« Sie machte eine Pause, aber Kersted schwieg.
»Ich denke auch oft an Pram«, gestand Nendsing. »So in die Wildnis geworfen zu sein, ohne meine Instrumente, ohne die Hama, ohne Bücher, ohne meine Kollegen, die mir sonst immer so furchtbar auf die Nerven gegangen sind, das fällt mir schwer.«
»Du hältst dich sehr tapfer. Man könnte glauben, du seist gar keine Astronomin – übrigens auch kein pramsches Dienstmädchen –, sondern hättest dein Leben lang unter freiem Himmel geschlafen und wärst über Tag auf dem Rücken deines Pferdes durch die Lande gestreift.«
»Ich will dich trösten und du machst dich über mich lustig!«
Kersted blieb stehen, hielt ihren Arm fest.
»Nen, ich bewundere dich – ganz ehrlich. Ich habe nie eine Frau wie dich getroffen, ich habe mir nicht einmal vorstellen können, dass es eine Frau wie dich gibt … so klug, so mutig und so … schön.«
Es war zu dunkel, um es zu erkennen, aber Kersted hätte geschworen, dass sie errötete. Als sie jedoch sprach, klang ihre Stimme selbstsicher und die Ironie in ihren Worten war nicht zu überhören.
»Und ich habe mir nicht vorstellen können, dass ein Welse mit seinem Mund spricht statt mit seiner Waffe.«
»Nun, ich muss dir sagen, du hast großes Glück gehabt, Nendsing, dass du mich getroffen hast und dich nun nicht etwa mit einem meiner Kameraden abgeben musst. Ich schlage etwas aus der Art. Ich gebrauche sehr gern meinen Mund.«
»So? Und wann hattest du vor, mit dem Reden aufzuhören und deinen Mund zum Küssen zu gebrauchen? Wozu, glaubst du, habe ich dich hier raus in die Dunkelheit geschleppt?«
Es war zu kalt, um sich im Freien zu lieben – das Gras war klamm und ein frischer Nachtwind war aufgekommen. Sie taten es trotzdem. Nachdem er sie geküsst hatte, war Kersted durch nichts mehr davon abzuhalten; lange hatte er sich beherrscht, hatte alles aufgebracht, was er an welsischer Disziplin zusammenkratzen konnte. Nun öffnete Nendsing die Arme und schlang das Tuch um sie beide.
Es war aber nicht der Liebesakt, den Kersted in seinen Träumen schon oft mit Nendsing vollzogen hatte. Dort war sie nackt gewesen und ein warmer Feuerschein war über ihren Körper gehuscht, manchmal auch das Flackern von roten Lampen wie damals im Thronsaal von Pram. Sie war zärtlich gewesen, hatte ihn mit Küssen bedeckt, ihre Haare waren ebenso weich gewesen wie ihre Haut. Im Traum war alles an Nendsing warm und feucht und anschmiegsam gewesen – in dieser klaren Nacht unter den Sternen war ihre Nasenspitze so eisig wie ihre Hände. Kersted konnte Nendsing nicht wirklich sehen, dazu war es zu dunkel, und auch nicht ausziehen, dazu war es zu kalt. Er konnte nur unter ihrem Gewand die Schenkel emportasten und versuchen, ihre schnellen, gierigen Küsse zu erwidern. Sie war nicht zärtlich, sie krallte sich in Kersteds Haare, biss in seinen Hals. Sie war nicht anschmiegsam, sondern fordernd. Nendsings Leidenschaft war mindestens ebenso entfacht wie seine; Kersted war kaum in sie eingedrungen, als sie bebend aufstöhnte. Beide waren sie hungrig gewesen und beiden stand der Sinn nicht nach Genuss, sondern nach schnellstmöglicher Befriedigung.
Als Kersted wieder denken konnte, fragte er sich, was ihn nun von einem Tier unterschied und zum Menschen machte. Es war die Liebe, was sonst? Dass ich sie liebe, dachte er, macht uns beide zu Menschen.
6
Die Frauen, die Marken pflegten, konnte er nur an den Augen voneinander unterscheiden, denn der Großteil ihrer Gesichter sowie ihre Körper waren verhüllt. Sobald er wieder sprechen konnte, fragte er nach Smirn. Er fragte immer wieder, erhielt aber nie eine Antwort. Die drei Frauen – er nannte sie bei sich die schweigenden Schwestern – sprachen überhaupt nicht. Sie kamen nie gemeinsam, sondern nacheinander und jede in Begleitung zweier Wachen. Diese Männer blickten zwar finster, waren aber keine Dhurmmets und hielten sich im Hintergrund. Es waren jedoch auch keine Nord-Kwother; bedauerlicherweise hatte Marken während der Bewusstlosigkeit nicht die Seiten gewechselt.
Den Anfang eines Behandlungstages machte für gewöhnlich Schwester Essig. Marken hatte ihr diesen Namen gegeben, weil sie ihn mit einem lauwarmen, säuerlich riechenden Sud wusch. Dieser Sud
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