Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
Vom Netzwerk:
großen Klauen gruben sich in die schmalen Schultern des Läufers   – einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle der riesige Vogel den Mann wie eine Beute packen und hochzerren. Aber der Falke landete nur auf dem sich mühsam wieder aufrichtenden Mann. Wie schwer mochte dieser große Vogel sein? Der Läufer ließ den Arm sinken, legte den Kopf in den Nacken. Sein Gesicht verschwand fast ganz im Brustgefieder der Szasla, die ihre Schwingen bloß halb anlegte, sodass es aussah, als wolle sie den Mann unter sich beschützen. Nun, wo das scharfe Auge des Falken ihn fixierte, fiel Kersted auf, dass der Läufer seinen Blick gemieden hatte. Das Licht des zunehmenden Mondes war nicht hell genug, um alle Einzelheiten zu erkennen. Dennoch: Der Mann hatte ihm nicht in die Augen gesehen, da war sich Kersted sicher. Machte einen das so argwöhnisch gegen ihn? Kersted hatte keine Gelegenheit, weiter darüber nachzudenken, denn die Szasla begann durch ihren Szasran zu sprechen.

    »Drei gehen,
    nur zwei bestehen.
    Wer tiefer ins Auge des Bösen sieht,
    wer weiter als die anderen geht,
    gerät ins Dunkel zwischen den Welten.
    Drei wurden auserwählt, das Schicksal zu wenden,
    nur zwei vollenden.
    Wer weiter als die anderen geht,
    der stirbt allein.«
    Obwohl Kersted die Stimme, die in ihrer hellen Klarheit weder zu dem Läufer noch zu dem großen Vogel passte, in seinem Innern gehört hatte, musste sie auch Nendsing etwas gesagt haben. Die zarte Segurin krallte sich derart in seine Hand, dass es bald bluten würde. Der Falke flog auf, sie schreckte zusammen, ließ Kersted los.
    »Du musst nichts beweisen, hörst du?« Nendsings Augen waren schwarz glänzende Kugeln. »Du gehst nicht voraus. Du   … du läufst einfach der Hohen Frau hinterher wie bisher, ja?«
    Er drückte sie an sich, strich über ihr Haar, küsste ihren Scheitel. Der Läufer ließ Kopf und Arme hängen, stand reglos wie ein Baum. Kersted legte den Arm um Nendsings Schultern und lotste sie sanft an dem Mann vorbei. Auch ihn hatten die Worte der Szasla verstört, dabei hatte Kersted nicht einen Atemzug lang an sich gedacht. Er war mit seiner Sorge immer noch bei Marken.
9
    Sie hatten ihm nie zuvor eine Medizin eingeflößt, aber als Marken das auffiel, war es zu spät: Er hatte den Becher bereits ausgetrunken. Er sah in Schwester Buchs kluge, goldene Augen und fragte sie stumm, was nun geschehen würde. Natürlich sagte sie auch jetzt nichts, aber ihr Blick wurde hart. Wenn man so wenig von einem anderen Menschen zu sehen bekommt, kann man irgendwann auch die Kleinigkeiten lesen   – einen Lidschlag oder die Bewegungen einer Hand, die nicht zur Ruhe kommt.
    Es war also so weit.
    »Ich will die Hohe Frau sehen«, sagte Marken. »Ich muss Smirn sprechen.« Seine Stimme erschien ihm fremd. Und was er sagte, kam ihm sinnlos vor.
    Er erhielt keine Antwort. Stattdessen traten Schwester Essig und Schwester Paste in Begleitung von Wachen ein. Sie brachten seine Sachen und halfen Marken, sich anzukleiden. Es war befremdlich, nach so langer Zeit wieder Kleidung zu tragen   – das und die Anwesenheit aller drei schweigenden Schwestern verstärkte das Gefühl des nahen Endes. Man hatte die Rüstung gereinigt, eine recht ordentliche Schulterplatte ergänzt und das, was von Markens Sachen nicht mehr brauchbar gewesen war   – also beinahe alles, außer den Hosen und Stiefeln aus Merzleder   –, durch neue Kleidungsstücke ersetzt. Sogar einen Helm hatte man ihm beschafft. Er war zwar an kwothische Vorlieben angepasst und im Nacken durch Lederplatten verlängert worden, sonst aber so gut wie sein alter. Kein Wunder, denn auch dieser Helm war von einem welsischen Schmied gefertigt worden. Marken setzte ihn nicht auf, aber es fühlte sich gut an, ihn im Arm zu tragen.
    Nun stand er also gesundet, gerüstet und voll frischem Lebenswillen in seiner Krankenzelle   – und vermisste sein Schwert. Nein, das gaben sie ihm nicht. Marken dachte kurz daran, sich mit den Wachen anzulegen. Aber erstens war er mit der Axt nur halb so gut wie mit dem Schwert, zweitens war ein derartiger Ausbruch wenig ehrenvoll. Und drittens hatte ohne Smirn nichts einen Sinn. Er beschloss also, nicht mehr zu fragen, zu drängen oder sonst einen Versuch zu machen, der das Unvermeidliche hinauszögern würde. Als er, eskortiert von den Wachen, den Raum verließ, fragte sich Marken, was für eine Medizin ihm Schwester Buch da verabreicht haben mochte. Ein Gift war es jedenfalls nicht

Weitere Kostenlose Bücher