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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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könnt gehen. Ihr habt doch sicher Besseres zu tun, als mir altem Weib beim Schwatzen zuzuhören, nicht wahr?«
    Sie sagte das hoffnungsvoll und gleichzeitig auf eine liebenswerte Art frech; eine Mischung, die nur Kindern und sehr alten Frauen gelingt. Dennoch war es eine Unverschämtheit, die Unda einfach wegzuschicken. Reva nahm es mit einem nachsichtigen Lächeln. Babu kam der Gedanke, dass die beiden sich nicht erst seit Zehnen, sondern schon viel länger kennen mussten.
    Ich kenne dich nicht, ich weiß nur von dir.
    Ja, so musste es sein: Reva wusste seit Langem von der alten Melrunden, sie wusste von ihr seit deren Geburt. So viele Wunder umgaben Babu   – ein Haus, das sich bewegte; ein Falke, der Babus Seele durch die Zeit tragen konnte; eine Unda, unerschöpflich in ihrem Fassungsvermögen und ihrer Geduld; ein Welse, ein strenger Soldat und dennoch sorgender als ein Vater, den Babu nie hatte haben dürfen. Als er so dasaß, die leichte Hand der alten Frau auf dem Oberschenkel, war sich Babu all dieser Wunder bewusst und wunderte sich dennoch nicht. Er ahnte, dass dies ein kostbarer Moment war. Denn dieses eine Mal, in diesem einen Augenblick, zweifelte er nicht, sondern nahm alles so, wie es war: Er war am rechten Ort zur rechtenZeit und in der besten Gesellschaft, die es für ihn auf dieser Welt geben konnte.
    Babu war glücklich. Und Melrunden begann zu erzählen.
4
    »Da waren einmal brave Leute, die hatten einen kleinen Hof und drei schöne, liebe Töchter. Und wie die so im Haus ihr Tagwerk verrichteten, da kam ein großer Rehbock in den Garten und fraß der Mutter ihre geliebten Rosen ab. Als die das sah, ward sie vor Ärger ganz starr und steif und rief nach ihrer ältesten Tochter: ›Komm schnell, der Bock ist in den Rosen, treib ihn fort!‹ Die Tochter, die gerade die Stube fegte, kam mit dem Besen und schlug nach dem Tier. Das aber schaute sie dreist aus schwarzen Augen an und spottete: ›Du willst mich schlagen? Dazu musst du mich erst kriegen!‹ Und sprang davon. Die Tochter, herzensgut, aber leicht reizbar, sprang hinterdrein und hörte nicht auf die Rufe der Mutter. Die warnte sie nämlich, nicht zu weit in den Wald zu laufen. Dort hinein sprang der Rehbock, wie es so seine Art ist. Bald hatte sich die Tochter verlaufen und stand ganz traurig mit ihrem Besen zwischen den Bäumen und wusste nicht ein noch aus. Da trat zwischen den Stämmen ein Jägersmann hervor, schaute sie mit schwarzen Augen listig an und sagte: ›Schönes Kind, du hast dich verlaufen und findest den Weg nach Hause nicht mehr. Komm mit mir, ich werde für dich sorgen und du musst nichts weiter tun, als mir eine Nacht von drei Nächten zu Diensten sein. Die andere Zeit hast du für dich.‹ Das gefiel dem Mädchen nicht, aber was sollte es tun? Es ging also mit dem Jägersmann mit.«
    Die Alte unterbrach sich mit einem leisen Kichern und klopfte Felt vergnügt auf den Schenkel.
    »Sah er gut aus, dieser Jägersmann? Trug er vielleicht Pfeil und Bogen?«, fragte der mit Seitenblick auf Babu.
    »Der Bock hatte sich verwandelt, das ist euch bestimmt klar«, sagte sie und nickte bedächtig. »Und natürlich musste sich das Mädchen ein wenig zieren, das gehört sich so. Aber unter uns: So gern sie ihre Eltern hatte, sie war doch froh, einmal aus dem Haus zu kommen und etwas zu erleben.«
    Sie kicherte wieder und Babu begriff: Sie hatte nicht oder nur so ungefähr verstanden, was Felt gefragt hatte. Und da fiel es ihm wieder ein. Sie beide, der Welse und der Merzer, hatten sich nur verstehen können, weil sie ein besonderes Sprachverständnis aus Wiatraïn mitgebracht hatten. Deshalb hatte auch Teleia so eigenartig reagiert   – Babu verstand jedes Wort von ihr, sie aber verstand ihn nicht. Genauso musste es auch mit Melrunden sein. Was nicht ausschloss, dass sie zudem schwerhörig war. Welche Sprache mochte sie sprechen? Wo genau waren sie hier überhaupt? Melrunden murmelte geistesabwesend in sich hinein und Babu ließ seinen Blick schweifen.
    Dieser Ort musste im Lendern wunderschön sein und war selbst jetzt, im beginnenden Firsten, nicht kalt und abweisend. Ringsum stieg das Land sanft an, die Hügel waren mit Sträuchern bewachsen, an denen sich noch die roten Blätter festklammerten. Die Bank stand unter einem Baum mit weit ausladenden Ästen, direkt daneben floss ein Bach in den Mühlteich. Das Wasser war dunkel und klar, an den Ufern des Teichs hatte sich eine dünne Eishaut gebildet. Sie knisterte über dem

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